© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    47/00 17. November 2000

 
Tödliche Träumereien
Kino II: "The Virgin Suicides – Verlorene Jugend" von Sofia Coppola
Silke Lührmann

Michigan, vor 25 Jahren: Mehr als eine Dekade nach der Veröffentlichung von Betty Friedans "The Feminine Mystique" war die zivilgesellschaftliche Utopie der suburbs ausgeträumt. Sofia Coppolas Regiedebüt "The Virgin Suicides" (deutscher Untertitel: "Verlorene Jugend") evoziert sie nostalgisch, um sie umgehend zu dekonstruieren. Ihr Sinnbild, die uralte Ulme, nach der in jeder amerikanischen Ortschaft mindestens eine Elm Street benannt scheint, wird von der städtischen Parkbehörde gleich am Anfang des Films zum Tode verdammt. Der vielbeschworene nachbarschaftliche Zusammenhalt reicht nicht aus, den Zaun zu entfernen, auf den sich die 13jährige Cecilia Lisbon in ihrem Hochzeitskleid gestürzt hat, um zu sterben. Ein makabrer Streik der Friedhofsarbeiter stört Cecilias Beerdigung.

Kathleen Turner, ihre sonst so flamboyante Ausstrahlung in das Korsett der frommen Hausfrau Mrs. Lisbon geschnürt, hält fünf Töchter in einem Brutkasten aus Pubertät und Religiösität gefangen. Der wohlwollende, aber unbedarfte Vater (James Woods), Mathematiklehrer an der örtlichen High School, ist längst vor der "Wolke aus Östrogen", dem Badezimmerschrank voller Tampons ins innere Exil geflüchtet und wünscht sich sichtlich Söhne, die seine Leidenschaft für Modellflugzeuge teilen.

Unberührt zu sterben – diesen Alptraum aller Jugendlichen erfüllen sich vier der Lisbon-Schwestern. Lux, mit 14 die Zweitjüngste und gespielt von Kirsten Dunst, die letztes Jahr schon in Michael Patrick Janns "Drop Dead Gorgeous – Gnadenlos Schön" als Schönheitskönigin von der Leinwand schmollte, treibt es – zur Verblüffung der Nachbarjungen wie des Kinopublikums – als surreale Nymphomanin auf dem Dach ihres Elternhauses mit den verschiedensten Männern, nachdem die Mutter ein Ausgehverbot über die Mädchen verhängt hat.

Ein hübsches blondes Mädchen zu sein, ist schwerer, als es aussieht, und Religion erstickt Lebenslust. Irgendwie wußte man das schon, und genauer will der Film es nicht erklären; schließlich soll eben dies als Geheimnis in seinem Mittelpunkt stehen und ihn unvergeßlich machen. Am Ende bekennt sein Erzähler, ihm sei keine lebendige Erinnerung geblieben, sondern eine lange Liste banaler Tatsachen. Das liegt thematisch nahe, führt aber in die Irre, denn hier geht es nicht mehr um Lebendigkeit, sondern um Sinnhaftigkeit. Anders gesagt: Dieser Film versteht die Geschichte, die er vorführt, selber nicht. Dabei strebt jedes Erzählen, ob in Worten oder Bildern, nach Sinn. Während Worte Annäherungscharakter haben, hinter dem sich viel Ungewußtes verbergen läßt, können Bilder als konkretisierende Festlegungen nicht jederzeit rückgängig gemacht werden.

So nimmt der Film eine eindeutige Schuldzuweisung vor, die Jeffrey Eugenides’ Romanvorlage (dt. "Die Selbstmord-Schwestern", 1995) verweigert. Denn außer ihren Eltern, an denen die permissive Wende der sechziger Jahre scheinbar spurlos vorübergegangen ist, hindert nichts die Lisbon-Mädchen daran, die peinlichen ersten Begegnungen mit dem anderen Geschlecht und der eigenen Sexualität ganz normal zu überwinden. Auch mit der Sorge um die Bäume ließe sich weiterleben, wie die letzten Szenen zeigen: Eine Umweltkatastrophe wird pragmatisch zum Thema für einen Debütantinnenball umfunktioniert, die Gasmaske als dramatisches Mode-Accessoire getragen. Also wäre das Geheimnis gelüftet – hätten sich die Mädchen nicht ausgerechnet in jener Nacht umgebracht, in der ihnen eine andere, ebenso phantastische, aber weniger melodramatische Fluchtmöglichkeit angeboten wird.

Der Film spielt – man möchte sagen: kaspert – mit visuellen Klischees aus Werbung, Musikvideos und milden Horrorstreifen, die eher der Erzählgegenwart als der erzählten Vergangenheit entstammen und ihn oft ohne erkennbares Motiv ins Anachronistische abgleiten lassen. Ansonsten verläßt sich Francis Ford Coppolas Tochter auf eine der Romanvorlage entlehnte voiceover-Erzählung. Die doppelte Fokussierung macht die Perspektive unscharf: Gibt diese Stimme dem Zuschauer zusätzliche Informationen, oder ist ihre Besessenheit, wie im Buch, die eigentliche Quelle unserer Anteilnahme am Schicksal der Lisbon-Schwestern? Eugenides’ dem griechischen Chor ähnelndes kollektives "Wir" einem einzelnen Nachbarjungen in den Mund zu legen, erweist sich als nur vermeintlicher, jedenfalls überflüssiger Kunstgriff. Er nimmt der Geschichte ein Stück ihrer halluzinatorischen, mythischen Dimension und rückt sie einem sowenig beabsichtigten wie einlösbaren Realismus näher.

P. T. Andersons "Magnolia" machte Anfang des Jahres vor, wie viele Ideen erst mit filmischen Mitteln faßbar werden. Dagegen beweist "The Virgin Suicides" einmal mehr, daß nicht jeder gute Roman nur ein verkapptes Drehbuch ist, das sehnsüchtig seiner Verfilmung harrt.


 
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