© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    47/00 17. November 2000

 
Semantische Landnahmen
Geschlechterforschung expandiert an deutschen Hochschulen: Das Hauptseminar als Selbsterfahrungsgruppe
Jutta Winckler

Elvira Eickelborn moderierte wie jeden Montagfrühabend das Kulturmagazin im vierten Kanal des Westdeutschen Rundfunks. Soeben war sie dabei, eine "Frau Dr. Freia Neumann" hymnisch zu preisen, die es zu einer Lehrkanzel in historischer Musikwissenschaft gebracht hat. Die steht in einer kulturwissenschaftlichen Unterabteilung der Carl-Ossietzky-Universität zu Oldenburg. Zu einem rechtschaffenen deutschen Ordinariat gehören gelegentliche Symposien.

Dort gibt sich die handverlesen eingeladene Fachwelt ein Stelldichein und es geht mitunter sogar "wissenschaftlich" zu. Auch Frau Neumann schob dem Vernehmen nach ein solches an. Sie und ihr akademischer Mitarbeiterapparat hatten zum Austausch in Sachen "Geschlechtsspezifische Polarisationen in der Musik des 19. Jahrhunderts" geladen. Dreißig Referentinnen gaben ihr Erforschtes preis, selbst ein unterhaltsamer Rapport über "die gesellschaftliche Stellung hauptberuflicher Sängerinnen im Italien des achtzehnten Jahrhunderts" war darunter. Zur Gänze aus zeitgenössischen Gazetten und Journalen geschöpft, autoptisch, und auch die obligate Würdigung einer gelegentlich kompositorisch tätigen Mendelssohn-Schwester fehlte nicht. Die Frauen waren unter sich, und es roch nach "Gender Studies", jener eigenartigen Modedisziplin aus den USA. Diese Wissenschaftsblüte sandte Europas "sanfter Hegemon" (K. Weißmann) seiner atlantischen Gegenküste hinüber. Wie so vieles andere an ideologischem Unterfutter zwecks mentaler Dauerentwaffnung.

Tagtäglicher Begriffskrieg gegen das eigene Volk

Denn im Weltbürgerkrieg rauben Sieger neben den physischen auch geistigeTerritorien. Deren dauerhaftes Ausschalten erfordert semantische Landnahmen, Etablierung einer Kapitulanten-Hermeneutik, tagtäglichen Begriffskrieg, geführt gegen das eigene Volk. Aus Terrorbombardements gegen Frauen, Kinder und Kirchen werden "kriegsbedingte Verwerfungen im Stadtbild", aus millionenfachem Lustmord an Flüchtlingen eine "unfreiwillige verlustreiche Wanderung", aus einer exzellenten Armee, dem Ostheer des Großdeutschen Reiches, "marodisierende Banden". Die von Anbeginn amtlich geförderte Verwirrung ist nach einem halben Jahrhundert Dauerfeuer immens.

In einem besetzten Land ist eine freie Wissenschaft und Forschung unmöglich. Carl Schmitts Glossarium sagt dazu Wahrheiten, die bis heute gültig sind. Der Sieger tauscht seine Afterideologien gegen die besten Köpfe der von ihm Dominierten ("Braindrain"). In diesem Kontext gehören die US-abkünftigen Gender Studies als neuerdings institutionalisiertes Alimentationsfeld zum sozialwissenschaftlichen Ideologiekomplex der Gesellschaftsverbesserungs- (sprich: -auflösungs-)strategien mit Säkularevangeliumscharakter.

Mit Inbrunst trugen weiße, bald auch farbige US-Amerikanerinnen ihre diversen Einsichten vor. Brutstätte der neuen Erkenntnisse war abermals der materiell hochsaturierte Süden der USA: Kalifornien, Florida, das Eldorado der Dekadenten, Perversen und mühelos Reichgewordenen. Dort kamen "Studies" auf, die sich das Zufälligste, Meritenloseste, Krudeste am Individuum zum Gegenstand erkoren, um es zum Angelpunkt einer liberalistischen Generalisation zu machen: Das jeweilige Geschlecht, in dem wir Exemplare einer zwiefach ausgelegten Gattung uns vorzufinden gewohnt sind.

Die Exponentinnen (Gender-Männer sind rarissima) brechen gleichsam analog mit der Selbstverständlichkeit, daß Alter ebensowenig ein Vergehen ist wie Jugend ein Verdienst. In der Regel wird das Gendern vom Ressentiment grundiert, das Weibliche sei an sich selbst bereits, quasi naturwüchsig, höherwertig und dem Maskulinen anthropologisch konstant vorgeordnet: Parafreudianisch wird "der kleine Unterschied" aufgebläht zum kultur- und gattungsgeschichtlich belangvollsten.

(Neue) "Wissenschaft entsteht", so der Philosoph Friedrich Nietzsche, "wenn die Götter schlecht gedacht werden". Die liberale Welt denkt von allen möglichen den übelsten von ihnen, den Mammon, und den miserabel und skrupulös. In der drüsenwissenschaftlichen Gender-Rauhnacht der Geschlechtsaufklärung spuken entsprechend viele Idola-Götzen: Begriffspriesterinnen sämtlicher Hormonzonen geben ihrem autoidolatrischen Affen Zucker. Was ist das Geschlecht? Was Weib, was Mann? Wie steht es um das Verhältnis der Geschlechter? Die Lehre von Frau und Mann, das Hauptseminar als Selbsterfahrungsgruppe. Das jakobinische Erbteil solcher Afterwissenschaft ist die Prätention einer "unheilvoll fortwirkenden Ungleichheit der Geschlechter in Beruf, Beziehungen, Kultur und Politik". Geschlechtlichkeit soll als die Strukturkategorie der nordamerikanischen "Cultural Studies" gelten; unter weitestgehender Ignoranz gründender Kanones sollen mit ihr als hermeneutischer Matrix neue empirisch abgeleitete Einsichten ins Innere moderner Gesellschaften gewonnen werden.

In den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts entwickelte sich in protestantischen Gesellschaften, zunächst den USA, später England und den Niederlanden, ein universitärer Gender-Kanon. Mittlerweile ist "Frauenforschung", sogar "theologische", auch in der BRD lehrstuhlmäßig flächendeckend etabliert. Soeben hat in Münster Marie-Theres Wacker einen neu erichteten Lehrstuhl "Exegese des Alten Testaments und Theologische Frauenforschung" erklommen – weltweit die zweite Professur dieser Art. In Berlin kann an der Humboldt-Universität seit dem Wintersemester 1997/98 im Wege des "bundesweit" ersten Studiengangs das "zentraleuropäische" Geschlechterverhältnis rekognostiziert werden. Konstanz und Freiburg ziehen im Herbst 2000 nach, die Hochschule für Wirtschaft und Politik in Hamburg kann bereits auf ein "interdisziplinär" gewichtetes Gender-Semester verweisen, in dem sich sogar Betriebs- und Volkswirtschaftler ums Geschlecht Gedanken machen.

Nur der unreflektierten Betrachtung erscheine der Homo oeconomicus männlich oder gar geschlechtslos, so Privatdozent Michael Meuser, der sich "die Analyse männlicher Lebenslagen in Deutschland" angelegen sein läßt. Gleichwohl steige die Zahl jener Diplom- und Magisterarbeiten erfreulich an, die sich in den Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften der "Männerthemen" annehmen. Meusers Habilitationsschrift umkreiste das Thema "Geschlecht und Männlichkeit", besonders hinsichtlich der Fragestellung, inwieweit die "Frauenbewegung Einfluß auf die Orientierungen von Männern gewinnen konnte."

Auch das Männliche wird universitär erforscht

Es ergab sich aus der Untersuchung, daß von einer "Krise der Männlichkeit" nicht die Rede sein kann. Und auch von feministischem Einfluß nicht, haben doch Männer über dreißig in ihrem Alltagsleben "keinerlei Berührung mit der Frauenbewegung". Sie leben wie eh und je in ihren tradierten Haltungen und scheren sich keinen Deut um Damenbewegungsaktivitäten. Bloß Studenten, wie könnte es anders sein, weisen in ihrem Verhalten zeitweilig eine Verunsicherung im Umgang mit dem weiblichen Bevölkerungsteil auf; hierin könnte ein Verursachungsmoment für den enormen Anstieg einer Art "experimenteller Homosexualität unter Jungakademikern" liegen.

Auf den Holzweg geriete, wer Gender für identisch hielte mit der Erforschung des vermeintlich schwachen Geschlechts. Längst steht auch das Männliche an sich auf dem universitären Prüfstand. Gleichwohl beklagen planstellenschielend raffinierte Manns- und Weibsbilder des akademischen Mittelbaus, daß "Männerforschung hierzulande kaum Widerhall findet". Was geschieht, geschehe unter den Fittichen der Sozial- und Kulturwissenschaft und widme sich "fast ausschließlich den weiblichen Eigenschaften des sozialen Geschlechts". Männer nehme man nach wie vor als Widersacher und Unterdrücker wahr. Hier bestehe Nachholbedarf, beiden Geschlechtern müsse praktische wie kritische Theorie abgerungen werden, auf daß die einschlägige Politikberatung mehr Boden unter die Füße bekomme.

Die zunehmende Zahl deviant veranlagter, in ihrer geschlechts-spezifischen Rollenprofilierung unsicher gewordener bzw. sozialpsychologisch verunsicherter Zeitgenossen mag das gesteigerte Interesse an Genderstudien erklären helfen. Wie die Friedensbewegung die Zahl der Theologiestudenten hatte ansteigen lassen, so mag die Durchsexualisierung des sozialen Raumes Analoges im Genderbereich hervorrufen. Die Männerforschung jedenfalls findet ihren Resonanzboden in der einzigen noch funktionierenden Internationale, der Schwulen, ebenso wie die Frauenforschung den ihren in lesbischen Kreisen hat finden können. Dem mag ein Genderansatz entgegenstehen, der Männlichkeit und Weiblichkeit relational aufeinander bezogen deutet, sie gar auseinander hervorgehen läßt. Im Zentrum der Forschung stehen individuelle wie soziale Folgen der Rollenzuschreibung Mann bzw. Frau, historische Lösungs- und Querschnitte werden angelegt und sogar politökonomisch analysiert: Verdankt sich das Ideal maskuliner Härte tatsächlich bloß wirtschaftlichem Gewinninteresse? Wie wirkt sich die Tatsache aus, daß die Arbeitswelt physische Körperkraft kaum noch nachfragt und die traditionelle männliche Überlegenheit per Physis bald Geschichte sein wird?

Einen Lehrstuhl für Männerforschung hat die BRD noch nicht vorzuweisen; wer sich aus soziologischer, psychologischer oder kulturhistorischer Sicht mit der Männer-Thematik befassen möchte, findet "Frauenlehrstühle": "Die Frauenforschung hat sich schon immer auch mit Männern befaßt", betont Paula-Irene Villa, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Bochum. Sie erklärt die Ressentiments gegenüber der Männerforschung damit, daß es keine Diskriminierung aufzuarbeiten gebe. Paula-Irene Villa hat zuletzt die Gastprofessur von Robert W. Connell betreut – der Australier gilt derzeit als wichtigster Vertreter "kritischer Männer- bzw. Geschlechterforschung". Die einschlägigen Klüngel reagierten unverzüglich mit der üblichen Aufregung der Szene: Nicht weil ein renommierter Gelehrter nach Bochum kam, sondern weil die Fakultät die "Marie-Jahoda-Professur-Internationale Gastprofessur für Frauenforschung" mit einem Mann besetzt hatte.

Zusätzliche Planstellen und Finanzmittel bereitgestellt

Es wurde erkennbar, wie undeutlich das Profil der Sparte noch ist; auf der Suche nach ihrem Gegenstand meint Gender-Forschung weniger das biologische als das "soziale Geschlecht". In Nordrhein-Westfalen macht die den Alimentenzufluß regulierende Ministerialbürokratie keinen Hehl daraus, daß die universitären Lehrkader für Herren- bzw. Damenkunde als durchpolitisierte Instanzen parteipolitischer Einflußname "immer auch auf die volle Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern zielen." Die Belange "von Frauen", so Dozentin Villa, werden offenbar stärker wahrgenommen, "wenn ein Mann sie vorträgt." Dann trauen sich mehr Männer in die Seminare undWorkshops, und immerhin ein Drittel der Hörer Connells seien "männlich" gewesen. "Offenbar werden Frauen erst unter männlicher Obhut ernst genommen", argwöhnt Ilse Lenz, Inhaberin des Lehrstuhls für Frauen- und Sozialstrukturforschung in Bochum.

Für Planstelleninteressenten und Gesinnungsmeliorisierer freilich hinkt die deutsche Gender-Forschung der nordamerikanischen noch hinterher. Doch darf Hoffnung keimen, wächst doch behördlicherseits "die Erkenntnis, daß die Frauen- und Geschlechterforschung international eine Bedeutung erreicht, die es notwendig macht, ihre Institutionalisierung zielgerichtet voranzutreiben" – Originalton Annette Schavan, christdemokratische Kulturministerin zu Stuttgart. Baden-Württemberg stellt gegenwärtig ansehnliche zehn zusätzliche Professuren bereit sowie Mittel für die Einrichtung eines Hochschularten übergreifenden Zentrums mit Gender-Schwerpunkt. Gelder sind und bleiben eben nur dort knapp, wo Interessen und Bedürfnisse unfähig sind, sich zu gesellschaftlich interventionsfähigen Pressuregroups zu formieren. Wie etwa Rechte, Konservative, Nationale und Ordoliberale.


 
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