© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    49/00 01. Dezember 2000

 
Tödliches Trinkwasser
Israels strategische Interessen stehen einer Einigung entgegen
michael wiesberg

Mehr und mehr gerät Israel mit seiner massiven Vergeltungsstrategie gegenüber den Palästinensern diplomatisch in die Defensive. UN-Generalsekretär Kofi Annan verurteilte die jüngsten israelischen Angriffe "auf das Schärfste". Zugleich appellierte er am Dienstag letzter Woche in New York an beide Seiten, jede weitere Eskalation zu vermeiden und das "Äußerste für ein Ende der Gewalt zu tun". Wohl auch deshalb hat Israel auf Vergeltungsakte für den Autobombenanschlag, bei dem am Mittwoch letzter Woche zwei Menschen getötet und mehr als 50 verletzt worden waren, zunächst verzichtet. Zuvor hatte der ägyptische Außenminister Amre Mussa Israel "Grausamkeiten, die alle Grenzen übersteigen" vorgeworfen. Ägypten hat daraufhin seinen Botschafter aus Israel zurückgezogen. Was die Stunde inzwischen geschlagen hat, brachte der palästinensische Parlamentspräsident Achmed Kurei auf den Punkt: Dieser bezeichnete den Friedensprozeß zwischen beiden Völkern als "klinisch tot". Insgesamt gab es bei den Unruhen bisher rund 250 getötete Palästinenser und 35 getötete Israelis.

Im Mittelpunkt aller dieser Interessengegensätze steht zuvorderst die Forderung der Kontrahenten Israels, daß Israel die im Zuge des Sechs-Tage-Krieges im Jahre 1967 eroberten Gebiete wieder abzutreten habe. Dazu ist Israel nicht nur aus militärstrategischen und aus ökonomischen Gründen nicht bereit, sieht es doch das Westjordanland als eine strategische Schlüsselregion an. Zu dieser Option sind in letzter Zeit durch die expansive Siedlungspolitik der Israelis mehr und mehr auch religiöse Untertöne getreten. Auf der anderen Seite betrachten die Palästinenser die Rückgabe des Westjordanlandes aber als conditio sine qua non für einen umfassenden Frieden mit Israel. Aus ihrer Sicht kommt die Siedlungspolitik der Israelis dem Versuch nahe, das Westjordanland schleichend zu annektieren. In dem Maße, so die Auffassung der Palästinenser, in dem israelische Siedlungen im Westjordanland zunehmen, wachsen auch die territorialen Ansprüche Israels auf das Westjordanland.

Von entscheidender Bedeutung ist aus israelischer Sicht die Sicherung der Wasserreserven im Westjordanland. Die Gebirge im Westjordanland liefern Jahr für Jahr etwa 600 Millionen Kubikmeter Wasser, das zu ca. 80 Prozent nach Israel geht. Laut Financial Times vom 8. August 1995 decken die Wasserreserven des Westjordanlandes ein Drittel des gesamten israelischen Wasserverbrauches, 40 Prozent des Trinkwasserverbrauches und 50 Prozent der Wassers, das für landwirtschaftliche Zwecke eingesetzt wird. 50 Millionen Kubikmeter gehen im übrigen an die jüdischen Siedler im Westjordanland. Für die Palästinenser bleiben ca. 120 bis130 Millionen Kubikmeter Wasser. Damit verbraucht jeder Israeli im Schnitt ca. dreimal soviel Wasser wie ein Palästinenser. Dieses Verhältnis verschlechtert sich aufgrund des Bevölkerungszuwachses ständig weiter zu Lasten der Palästinenser. Um seine Interessen zu sichern, untersagt Israel den Palästinensern seit 1967, neue Brunnen im Westjordanland anzulegen. Die Israelis dürften vor diesem Hintergrund keinem Friedensvertrag zustimmen, der ihnen die Kontrolle über die Wasserreserven des Westjordanlandes entziehen würde.

Der Gaza-Streifen hingegen ist für Israel von eher nachrangiger Bedeutung. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß Israel das palästinensische Gebiet im Gazastreifen seit Mittwoch letzter Woche mit Panzersperren in zwei Hälften geteilt hat. In der Vergangenheit hat Israel in erster Linie strategische Argumente ins Feld geführt, um die anhaltende Besetzung des Gaza-Streifens zu begründen. Im Gaza-Streifen sollen mögliche Angreifer davon abgehalten werden, an der Küste entlang bis nach Tel Aviv durchzustoßen. Obwohl in der Zwischenzeit einige tausend israelische Siedler im Gaza-Streifen in Siedlungen leben, die auch die Aufgabe haben, das Sicherheitsgefühl aller Israelis zu steigern, sind selbst orthodoxe Israelis nicht sonderlich erpicht darauf, in dieser überbevölkerten und verarmten Region zu bleiben.

Zu diesem an sich schon hinreichend brisanten Konfliktpotential treten die ungelösten Streitigkeiten mit Syrien. Seit 1967 halten die Israelis die Golanhöhen besetzt. Seit 1981 gilt israelisches Recht auch in den besetzten Gebieten der Golanhöhen, was manche Beobachter als mehr oder weniger unverhüllte Annexion deuten. Die Syrer betrachten die Golanhöhen als uraltes syrisches Territorium. Jeder syrische Politiker, der im Hinblick auf die Golanhöhen Israel Konzessionen machen würde, beginge politischen Selbstmord. Dazu kommt aus syrischer Sicht ein weiterer entscheidender Punkt: Eine andauernde militärische Besetzung der Golanhöhen durch Israel bedeutet eine unmittelbare Bedrohung der Hauptstadt Damaskus, die nur knapp fünfzig Kilometer von der Feuerlinie der Israelis entfernt liegt. Im übrigen gilt für die Golanhöhen, was bereits für das Westjordanland ausgeführt wurde. Die Wasserreserven, die die Golanhöhen bereitstellen, decken derzeit 30 Prozent des israelischen Trinkwasserverbrauches ab.

Wie man es auch dreht und wendet: Der Nahe Osten wird auch in Zukunft ein gefährlicher Konfliktherd bleiben. Es sei denn, es kommt zu einem weitgehenden Kotau der involvierten arabischen Parteien gegenüber Israel. Dies kann aber nach Lage der Dinge ausgeschlossen werden. Viel wahrscheinlicher ist, daß die Schärfe dieses Konflikes mit (noch) "niedriger Intensität" weiter zunimmt.


 
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