© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    49/00 01. Dezember 2000

 
"Sie werden sich noch wundern"
Hendrik Wüst, der neue Landesvorsitzende der Jungen Union in Nordrhein-Westfalen, über Erneuerung in der Union
Moritz Schwarz

Herr Wüst, Sie sind der frischgebackene Landesvorsitzende der Jungen Union in Nordrhein-Westfalen und führen damit den größten JU-Landesverband. Was wollen Sie verändern?

Wüst: Das ist ja in erster Linie formale Macht, echten Einfluß muß man sich im Grunde erst durch die tägliche Arbeit in dieser Funktion erarbeiten. Es ist also weder Sprungbrett noch Ruhekissen, sondern ein Arbeitsauftrag. Wir müssen innerhalb der CDU ein stärkeres Gewicht bekommen. Unser erstes Anliegen wird dabei die Erneuerung der CDU sein. Allerdings ist das eher ein internes Thema. Das Thema aber – bei dem man immer wieder bohren, bohren, bohren muß – ist Bildung! In Sachsen und Thüringen etwa haben die jungen Leute in zwölf Jahren bis zum Abitur mehr Unterrichtsstunden als nordrhein-westfälische Schüler in dreizehn.

Der Landesverband hat nun ein Papier mit dem Titel "Erneuerung der CDU auch im Westen" beschlossen. Was ist mit diesem Titel gemeint, was sind die Inhalte des Papiers?

Wüst: Ziel des Papiers ist, Bewegung in die CDU-Vorstände hineinzubringen, und zwar auf allen Ebenen. Wir müssen nicht nur "neue CDU", sondern "junge CDU" werden, weil uns sonst die Leute den Erneuerungsprozeß nicht abkaufen. Dazu stellen wir konkrete Forderungen auf: Etwa, einen Vorstandsposten darf man künftig nur noch zehn Jahre innehaben. Oder, man darf nur noch zwei Vorstandsposten gleichzeitig besetzen. Wir wollen die Mandatsträger aus den Vorständen haben. Zumindest sollte nicht mehr als die Hälfte von Mandatsträgern besetzt sein, damit die Partei nicht nur verwaltet, sondern von Leuten geleitet wird, die ihre Funktion kreativ und phantasievoll gestalten. Wir wollen damit niemanden vor den Kopf stoßen, Mandatsträger können auch gerne kooptiert werden, also als Gast ihren Sachverstand einbringen. Aber sie sollen Vorstandsposten freimachen für neue Leute. Natürlich können das dann auch mal ältere Herrschaften sein, vorausgesetzt sie erweisen sich in ihrem Stil jung und agil. Sie werden sich wundern, was da noch in so einer Partei wie der CDU-NRW an Kraft schlummert.

NRW ist eine traditionelle SPD-Hochburg, und nun haben Sie auch noch das Problem Möllemann, der sich dort zum Platzhirsch zu entwickeln scheint.

Wüst: Von Jürgen Möllemann bin ich maßlos enttäuscht. Im Wahlkampf bot sich ja folgendes Bild: Sie sind hier abends in eine Kneipe gegangen – da war Möllemann. Sie sind durch die Straßen nach Hause gegangen – überall klebte Möllemann. Sie haben den Fernseher eingeschaltet – es äußerte sich Möllemann. Dem Mann war nicht zu entkommen. Aber jetzt kommt nichts mehr nach. Klar, er schielt jetzt auf den Bundesvorsitz und will Wolfgang Gerhardt absägen. Das ist ja sein gutes Recht, aber aus NRW hat der Mann sich im Grunde schon wieder verabschiedet. Aber die FDP hat eine sehr junge Truppe im Landtag, die CDU ist dagegen mit einem Durchschnittsalter von etwa 53 Jahren die älteste Fraktion im Landtag. Wir dürfen uns also nicht weiterhin unsere Spitzenposition in den Jungwählerncharts von der FDP streitig machen lassen. Das Problem liegt bei den Kreis-, Bezirks- und Ortsverbänden: weil man sich da einfach nicht umguckt nach jungen Leuten. Junge Leute rennen heute nicht mehr zu einer Partei und wollen unbedingt mitmachen. Man muß sich auf die Socken machen und sie da abholen, wo sie sind. Deshalb wollen wir die CDU durch unsere Reformvorschläge quasi in eine Zwangslage bringen, damit sie sich nicht mehr auf der leichtesten Lösung ausruhen kann, sondern sich bemühen muß.

Jürgen Rüttgers ist für seine Grundsätze bezüglich der Bildungsmisere, die er mit dem Slogan "Kinder statt Inder" zusammengefaßt hat, von der Linken schwer angegriffen worden.

Wüst: Ich glaube, der Zusammenhang, den er mit dem Slogan "Mehr Ausbildung statt mehr Einwanderung" aufgezeigt hat, trifft durchaus zu. Daraus ergibt sich: Mehr Ausbildung ist immer der erste Schritt. Mehr Zuwanderung wegen der zurückgehenden Bevölkerungszahl – oft auch als bloßes Argument für die Einwanderung mißbraucht – kann immer nur der zweite Schritt sein. Wir müssen erreichen, daß es für junge Menschen wieder normal wird, sich über Kinder Gedanken zu machen statt darüber, ob sie dafür überhaupt Geld haben und ob sie damit vielleicht dem gesellschaftlichen Abstieg preisgegeben sind. Es muß in die Köpfe rein, daß wir junge Menschen selber wieder Kinder bekommen. Nur wenn wir das nicht schaffen, sollte es auch geregelte Einwanderung geben. Genauso verhält es sich mit ausländischen Facharbeitern.

Solche Äußerungen werden gemeinhin sofort rücksichtslos mit dem Vorwurf der "geistigen Brandstiftung" quittiert: siehe Paul Spiegels Rede am 9. November. Wird in diesem Streit das Argument, die Moral zu verteidigen, nicht für den politischen Kampf mißbraucht?

Wüst: Die Aussagen von Paul Spiegel sind natürlich schon ein bißchen befremdlich. Nun muß man Herrn Spiegel eine besondere Sensibilität zugestehen, das ist seine Aufgabe. Daß er aber fragt, ob Leitkultur damit zu tun habe, Ausländer zu jagen, geht natürlich über das Maß an Sensibilität, das ich ihm zugestehen würde, weit hinaus. Wenn wir über Integration und Zuwanderung sprechen, sollten wir uns darüber im klaren sein, daß es sich dabei um zwei Seiten einer Medaille handelt. Zuwanderung ohne Integration wäre eine Katastrophe. Also muß man sich fragen: Was ist Integration? Integration ist immer die Einbeziehung in ein großes Ganzes. Also etwas, was da ist: eine Kultur, eine Identität, ein Wertekonsens. Man kann dies doch durchaus unter einem Begriff – Leitkultur – zusammenfassen. Ob diese Kultur eine deutsche ist, ist eine andere Frage. Dann muß man klären, was bedeutet "deutsch"? Auf jeden Fall aber ist es unsere Kultur, also die Kultur, die hier ist. Das kann man fernab vom Streit um Begriffe als Faktum feststellen. Und dieser kommt dann die Funktion der Orientierung zu. Das wird doch niemand im Ernst bestreiten! Der zweite Punkt ist der "Mißbrauch der Moral für den politischen Kampf", wie Sie sagen. Ich finde diese ganze Debatte "gegen Rechts" ebenfalls befremdlich. Ich glaube, würden sich bürgerliche Politiker viel deutlicher zum Deutsch-sein und zur Nation bekennen, würde man viele Parolen, wie etwa die Aussage: "Ich bin stolz ein Deutscher zu sein", nicht Leuten überlassen, die dann im Nachsatz gleich chauvinistische Dinge hinterherbringen. Das wäre auch ein Schutz vor Radikalismus. Ich fand es deshalb sehr erfrischend und sehr gut, daß unser neuer Generalsekretär Laurenz Meyer auf die Frage des Focus: "Sind Sie stolz, ein Deutscher zu sein?" geantwortet hat: "Ja, ich bin stolz, ein Deutscher zu sein." Dies kann ich für mich auch nur unterstreichen. Ich weiß, ich habe nichts dafür getan, Deutscher zu sein, ich bin zufällig in Deutschland geboren. Es ist nichts, was mich über andere erhebt, aber ich kann doch stolz sein auf meine Leute, auf die Menschen in Deutschland. Auf Menschen, die mit einer erfolgreichen Nachkriegsgeschichte eine Leistung erbracht und die auch zur Wiedervereinigung Deutschlands einen hervorragenden Dienst geleistet haben. Darauf kann ich stolz sein. Deutsch sein ist nichts besonderes, aber etwas bestimmtes. Es ist eine Frage der Identität. Und das sollten konservative Politiker, die mit beiden Beinen voll in der Rechtsstaatlichkeit verwurzelt stehen, auch öfter mal sagen – auch sagen dürfen –, um solchen Menschen, die auch so empfinden, eine demokratische Heimat zu geben, damit sie nicht jenen überlassen bleiben, die damit etwas Falsches im Schilde führen.

Letztlich hat doch die CDU auf der großen Demonstration am 9. November in Berlin gegen sich selbst demonstriert.

Wüst: Ja, schon, doch daß Spiegel dann gerade gegen uns schießt, dafür konnten wir nichts. Aber man muß natürlich höllisch aufpassen, was da passiert. Da wird eine Demo "für Toleranz und Menschlichkeit" gemacht, die dann aber vom Empfinden her für viele eine Demo "gegen Rechts" war. "Für Toleranz und Menschlichkeit" – das ist prima, dafür könnte ich jeden Tag demonstrieren gehen. Aber auch in den Medien wurde nachher alles als "gegen Rechts" vermittelt. Wenn man dann so die Kommentare, auch honoriger Kommentatoren ordentlicher Fernseh- und Radioanstalten hörte, da ging alles durcheinander: rechtsradikal, rechtsextrem, rechts. Und der Bundeskanzler spricht ja schon lange nicht mehr von der CDU/CSU, sondern er spricht nur noch von "den Rechten" im Parlament. Da ist schon eine Strategie zu erkennen. Selber setzt er sich aber mit Gregor Gysi zum Weihnachtsessen, und die ehemalige Bundesvorsitzende der Jusos, Andrea Nahles, jetzt Mitglied des Bundestages, spricht schon davon, die PDS sei für die SPD fusionsfähig, so wie die CSU für die CDU.

Ihr Vorgänger Ralf Brauksiepe hat gegenüber unserer Zeitung vom Ende des antitotalitären Konsenses zugunsten des antifaschistischen Konsenses gesprochen.

Wüst: Das kann ich voll unterschreiben, das ist es.

Sie warnen zwar davor, aber was tun Sie dagegen?

Wüst: Sie haben vollkommen recht. Im Grunde wird es Zeit für eine Art "Rote-Socken-Kampagne", über die man dann viel streitet, aber die vor allem das Problem mal wieder deutlich macht. Die Debatte über rechtsextreme Gewalt ist zwar völlig richtig, aber sie verwischt die Konturen im linken Lager, und das muß man im Grunde klar herausarbeiten. Ich glaube, daß man dann auch innerhalb der SPD einen Widerstand erkennen würde, der sich jetzt noch kaum regt, weil er unter dem Gesichtspunkt Machterhalt und Schön-stille-halten noch schweigt. Ich glaube nämlich nicht wirklich, daß alle SPD-Bundestagsabgeordneten mit dem Kurs in Richtung PDS einverstanden sind. Man müßte zumindest mal versuchen, dieses Thema so weit in die öffentliche Debatte zu rücken, daß dort auch all jene Farbe bekennen, die dagegen sind. Andererseits müssen wir aber auch klarmachen, daß wir gar nicht betroffen sind, wenn es heißt "Kampf gegen Rechts", weil wir Mitte sind.

Weist aber nicht Ihre letzte Bemerkung genau die CDU-typische argumentative Schwäche auf, die dazu geführt hat, daß der politische Gegner Sie so erfolgreich in die Ecke drückt? Müßten Sie nicht diejenigen selbstbewußt schelten, die "Rechts" zu kriminalisieren versuchen, statt scheu in die Mitte auszuweichen?

Wüst: Ich kann mich schlecht vor 200.000 Leute stellen und sagen, das sei alles ganz falsch definiert. Ich kann dann nur sagen, daß ich mich vom dem, was hier unterstellt wird, nicht getroffen fühle.

Vor 200.000 Menschen ist es tatsächlich zu spät. Eine selbstbewußte Definition muß gleich zu Beginn erfolgen. Beispiel "Leitkultur": Friedrich Merz hat den Begriff eingeführt, weiß aber offenbar selbst nicht, was er darunter versteht. Sogar Sie zögern, das Adjektiv "deutsch" zu verwenden.Warum bricht nun nicht, zumindest in der Union, eine mutige und kreative Debatte um diesen Begriff aus?

Wüst: Es gab in der Tat viel zu wenig konstruktive Diskussionen darüber. Was ist eigentlich deutsche Kultur, was ist europäische Kultur? "Leitkultur in Deutschland", das ist ein Konsens, auf den man sich innerhalb der CDU verständigt hat. Das sagt ja schon ein bißchen mehr darüber aus, daß man sich an dem orientiert, was hier ist. Denn das, was hier ist, ist ja nicht alles nur typisch deutsch. Wenn wir uns kulturell einen schönen Abend machen, gehen wir ins Theater und sehen einen französischen Autoren und gehen danach italienisch essen – ist das deutsche Kultur? Also die ganze Frage muß man sich – und da gebe ich Ihnen durchaus recht – mal durch den Kopf gehen lassen: Was ist "deutsche Kultur", und wie kann sie "leiten"?

Daß Sie nachdenken ehrt Sie, aber es ist auffällig, daß auch Sie in dieser Sache nur Fragen stellen, statt auch einmal den Mut zu wirklichen Antworten zu finden. Natürlich ist "deutsch" selbst keine fixe Formel, sondern Produkt eines historischen – also andauernden – Prozesses.Warum aber nimmt Ihnen diese Tatsache den Mut, sich dennoch zur Verbindlichkeit des Begriffes zu bekennen?

Wüst: Es stimmt ja, es ist in der Diskussion leider alles an der Oberfläche geblieben. Allerdings glaube ich wirklich, diskutiert man das tiefer, kommt man am Ende zu dem Ergebnis, daß man kein Ergebnis hat. Das hört sich vielleicht zaudernd an, ist aber eigentlich doch völlig klar: Denn all diese Dinge – nehmen wir mal Volk oder Staat – funktionieren doch letztlich immer nur über das Empfinden der Menschen. Das Ergebnis ist keine feste Formel, sondern das Empfinden, sich irgendwo zugehörig zu fühlen. Deshalb ist das, was Merz oder Merkel definiert haben, schon richtig. Ich muß das an dieser Stelle auch mal verteidigen: Wie wichtig diese grundsätzlichen Inhalte sind, sehen Sie am Fall des "Kalifen von Köln", der seine eigenen Häscher losläßt und einen Staat im Staat aufbaut. Es ist also schon verdammt wichtig, daß wir den Menschen, die herkommen, sagen, Ihr seid herzlich willkommen, aber haltet Euch bitte an unsere Gesetze.

Die Frage ist, gelingt es uns, eine Identität zu entwickeln, die dann dominant – im Sinne von gültig – ist für dieses Land und in die sich dann auch die bereits hier lebenden Ausländer gerne integrieren? Diesbezüglich kommt von der Union eben gar nichts.

Wüst: Gut, dominant im Sinne von "Orientierung geben". Ich gebe zu, es ist "typisch deutsch" , daß wir damit ein Problem haben. Es muß eben erst, auch im bürgerlichen Lager, wieder in Mode kommen, sich zu Deutschland zu bekennen.

Wäre es nicht Aufgabe der Union, den in Deutschland lebenden Ausländer klarzumachen, daß sie keine Angst vor dieser Leitkultur zu haben brauchen, sondern daß diese selbstverständlich ist und auch ihnen letztlich die Sicherheit eines gedeihlichen Zusammenlebens bietet?

Wüst: Ich weiß gar nicht, ob die in Deutschland lebenden Ausländer Angst davor haben. Herr Spiegel oder Herr Friedman sind doch gar keine Ausländer. Ich habe bisher noch keinen Ausländer getroffen, der mir sagte: Ich habe Angst vor der Leitkultur! So etwas macht nur Angst, wenn man keine Chance zur Integration bekommt. Wenn die Ausländer aber eine ordentliche Arbeit finden und ihre Kinder gleichberechtigt unsere Schulen besuchen, sie ihre Religion ausüben können – denn Glaubensfreiheit gehört zu unserer Kultur – und sie als ganz normale Familie mit uns leben können, dann haben sie auch keine Ängst davor, wenn wir sagen: Das ist unsere Kultur, so funktioniert das hier bei uns! Ich glaube, sie wissen zu schätzen, wenn jemand ein selbstbewußter Gastgeber ist. Im Gegenteil, nichts ist schlimmer, als wenn der Gastgeber völlig unsicher um seine Gäste herumwieselt und ständig fragt: Kann ich noch was tun? Ist alles recht? Wackelt der Stuhl? Ist der Tisch hoch genug? Fühlt Ihr Euch wohl? Aber derjenige, der sagt: Hallo, bitte setzt Euch, fühlt Euch wie zu Hause! – der ist einem viel lieber. Ich glaube, die Ausländer erwarten also sogar von uns, daß wir gute Deutsche sind.

 

Hendrik Wüst geboren 1975 in Rhede bei Münster, fand er 1989 aus Begeisterung über die deutsche Einheit zum Engagement in der Politik und trat im Jahr darauf der Jungen Union bei. Seit November 2000 ist Wüst Vorsitzender der JU in Nordrhein-Westfalen. Bereits seit 1994 engagiert er sich als CDU-Gemeinderat, inzwischen als stellvertretender Fraktionschef, in seiner Vaterstadt. Nach Abschluß eines Studiums der Rechtswissenschaften beginnt Wüst zum Jahreswechsel ein Referendariat am Landgericht Münster.

 

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