© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    49/00 01. Dezember 2000

 
BLICK NACH OSTEN
Alte und neue Lieblingskinder
Carl Gustaf Ströhm

Vernunft wird Unsinn – Wohltat Plage. An dieses Dichterwort muß denken, wer die inflationäre Vielfalt internationaler "Gipfel" an sich vorbeiziehen sieht. Gestern noch Biarritz, morgen Nizza, dazwischen ein OSZE-Außenministertreffen in Wien – und davor der EU-"Balkangipfel" in der kroatischen Hauptstadt Zagreb (Agram). Die Minister, die Bürokraten, dazu noch der Ameisenhaufen von Journalisten – das alles schafft eine "abgehobene", unwirkliche Atmosphäre.

In Zagreb, wo die Gipfel-Teilnehmer – mit Frankreichs Präsidenten Jacques Chirac als "spiritus rector" – hinter massivem Polizeischutz und mannshohen Gittern tagten, bemühte man sich, Harmonie zur Schau zu stellen. Vor den Gittern, die ans Raubtiergehege eines Zoos erinnerten, demonstrierten einige hundert kroatische "Nationalisten" gegen die von der EU forcierte Vereinnahmung Kroatiens durch den Balkan. Zum Schluß wurden sechs lebende Gänse in Richtung Polizeikordon in Marsch gesetzt, welche die sechs regierenden Zagreber Parteien symbolisierten und an das Wort des (von Serben ermordeten) kroatischen Bauernpolitikers Stjepan Radic erinnern sollten, der die Kroaten schon 1918, beim Zerfall der k.u.k.- Monarchie, gewarnt hatte, sich nicht "wie die Gänse im Nebel" in die Abhängigkeit von Belgrad zu begeben.

Genau das scheint sich jetzt anzubahnen. Im Schlußdokument der Konferenz ist von "regionaler Zusammenarbeit", freiem Handel und offenen Grenzen in der Region die Rede. Das aber bedeutet, daß Kroatien gezwungen sein wird, sich in Richtung Belgrad und Serbien – statt nach Westen und Mitteleuropa zu orientieren.

Serbiens neuer "shooting star" Kostunica genoß auch in Zagreb bevorzugte Behandlung. Von den 4,6 Milliarden Euro, welche die EU für die Länder Ex-Jugoslawiens (minus Slowenien) plus Albanien zur Verfügung stellt, erhält Serbien fast die Hälfte – ein deutlicher Beweis für die Protektion, die besonders von den Franzosen als den historischen Bundesgenossen Belgrads gefördert wird. Hinter den Kulissen soll es überdies zu Schreiduellen zwischen Kostunica und dem Präsidenten Montenegros, Mile Djukanovic, gekommen sein. Letzterer strebt die Unabhängigkeit von Belgrad an – aber der Italiener Prodi hat bereits erklärt, dies sei nicht eine Zeit für Abspaltungen, sondern für Vereinigungen. Montenegros Traum von Souveränität und westlicher Hilfe könnte sich also in Nichts auflösen. Und Djukanovic hat Gelegenheit, darüber nachzudenken, wie schnell man vom "Lieblingskind" der EU zum lästigen Bittsteller absinken kann, der den "Großen" nur ein Ärgernis ist.

Der neue Liebling des Westens, Kostunica, wurde von der EU derart hofiert, daß EVP-Parlamentarier sich entsetzt zeigten, weil Europa den Aggressor von gestern auf Kosten der Opfer bevorzugt. Der neue jugoslawische Präsident weigerte sich, den Opfern das Bedauern Serbiens auszusprechen. Statt dessen flüchtete er sich in die Formel, "alle" seien schuldig. Die Kosovo-Albaner dürften die Leidtragenden der neuen westlichen Belgrad-Begeisterung sein. Noch während man in Zagreb über Kooperation parlierte, fuhr das angeblich von der Nato "geschlagene" serbische Heer Panzer an der Kosovo-Grenze auf und stellte den KFOR-Truppen ein Ultimatum.

Um die Ironie zu vollenden: Am selben Wochenende wurde in Belgrad Slobodan Milosevic zum Chef der Sozialistischen Partei wiedergewählt. Mit Milosevic im Kreuz stehen Kostunica und seinen westlichen Freunden möglicherweise bewegte Zeiten bevor.


 
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