© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    49/00 01. Dezember 2000

 
Gott spielen
Gerichtsurteil befördert Debatte um Euthanasie
Lothar Groppe S.J.

Die heftige Diskussion um das Urteil des französischen Kassationsgerichts über die Entschädigung für die Geburt des schwerstbehinderten Nicolas Peruche ist erfreulich und erstaunlich zugleich. Erfreulich, weil zumindest in diesem konkreten Fall der Öffentlichkeit zum Bewußtsein gekommen scheint, daß Menschen nicht Wegwerfgegenstände sind, sondern Personen, denen unabhängig von "Normalität", Rang und Namen eine unantastbare Würde zukommt, wie Artikel 1 Grundgesetz betont.

Andererseits ist erstaunlich, daß die Öffentlichkeit erst jetzt aufschreckt, wo doch seit Jahr und Tag diese Würde mit Füßen getreten wird. Allein in der Bundesrepublik werden jedes Jahr etwa 300.000 Kinder im Mutterleib getötet, weltweit etwa 50 Millionen, wie die Weltgesundheitsorganisation schätzt. Und Bundesjustizministerin Däubler-Gmelin (SPD) beklagt larmoyant, daß wir "noch immer nicht über flächendeckende Abtreibungskliniken verfügen". So konnte es nicht ausbleiben, daß Papst Johannes Paul II. in seinem Brief vom Frühjahr 1998 an die nordamerikanischen Bischöfe schrieb, er werde sich "nicht mit dem noch immer andauernden Holocaust ungeborenen Lebens abfinden".

Es wäre aber zu kurz gedacht, wollte man das Urteil des obersten französischen Gerichts isoliert betrachten. Wir müssen uns darüber Rechenschaft geben, daß Befruchtung in der Retorte, Abtreibung, die "Sterbehilfe" à la Hackethal oder der Mißbrauch menschlicher Föten zur Kosmetikherstellung zwar verschiedene Tatbestände darstellen, die aber alle einer gemeinsamen Wurzel entspringen: der Anmaßung des Menschen, sich zum unumschränkten Herrn über Leben und Tod aufzuschwingen.

Die Bestrebungen unserer Tage, stufenweise zur Euthanasie zu kommen, durch Fruchtwasseruntersuchung behinderte Menschen "rechtzeitig zu verhindern" zeigen, daß sich ein großer Teil unserer Gesellschaft von Gott losgesagt hat. Und wenn es Gott nicht gibt, ist alles erlaubt, wie Dostojewski sagt. So ruft der Diskussionsentwurf der Bundesärztekammer zur Präimplantationsdiagnostik de Erinnerung an die Wegbereiter des nationalsozialistischen Euthanasieprogramms wach, die beiden renommierten Wissenschaftler Hache (Psychiater) und Binding (Jurist), die bereits 1920, also lange vor Hitler, in ihrem Buch "Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens" die Tötung "leerer Menschenhülsen" und "Ballastexistenzen" gefordert hatten. Dieser Diskussionsentwurf "stellt eine Aufforderung zur Verletzung der Würde des Menschen dar, indem er ärztliche Hilfe zur Identifizierung und anschließenden Tötung angeblich lebensunwerten Lebens anbietet, um nur gesunden Kindern zum weiteren Leben zu verhelfen", wie Kardinal Meisner am 22. März dieses Jahres in der Welt schrieb.

Lediglich mit Rücksicht auf den verbrecherischen Nationalsozialismus vermeidet man heute den Begriff "Euthanasie" und spricht dafür von "Sterbehilfe". Aber das Bestreben, sich unerwünschter "Ballastexistenzen" zu entledigen, hat sich nicht geändert, lediglich der belastete Sprachgebrauch.

Die Niederlande haben vorexerziert, wie man das Problem der "Altenentsorgung" löst. Die frühere Bundesministerin Lehr kritisierte im Mai 1993 bei der Eröffnung der "Woche für das Leben", daß von "Sterbehilfe" oder "selbstbestimmtem Tod" die Rede sei. Dabei handele es sich um "eine vornehme Umschreibung für das Töten". Sie verwies auf die Entwicklung in den Niederlanden, wo von 129.000 Todesfällen über 60jähriger bei knapp 20.000 das Leben durch aktive Euthanasie beendet worden sei, davon rund 11.500 ohne ausdrückliche Bitte des Kranken.

Wer unschuldiges menschliches Leben aus Zweckmäßigkeitsgründen zur "Entsorgung" freigeben will, offenbart eine Mentalität, die sich in nichts von der verbrecherischen Ideologie der Nationalsozialisten unterscheidet. Es gilt, den Anfängen zu wehren, damit nicht das Gesetz des Dschungels unser Handeln bestimmt. P.

 

Pater Lothar Groppe SJ war Militärpfarrer und Dozent an der Führungsakademie der Bundeswehr sowie zeitweise Leiter der deutschen Sektion von Radio Vatikan.


 
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