© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    50/00 08. Dezember 2000

 
Virtuelle Demokratie
Das Internet unterminiert das Informations- und Meinungsmonopol der alten Diskurseliten
Alexander Falz

Es gibt sie noch, die echte Demokratie. Natürlich nicht im realen Leben, sondern im Internet. Über knapp 6.500 Mitglieder verfügt dol2day (neudeutsch: "Democracy online") zur Zeit. Studenten der TU Aachen haben diese Form der Cyber-Demokratie erfunden. Ein Internet-Kanzler wird gewählt. Internet-Parteien haben sich gebildet. Sogar eine neue "Generation @" wurde ausgerufen. Alles nur der übliche Lifestyle-Mumpitz?

Die meisten Teilnehmer auf der Website dol2day.de sind in Parteien organisiert, mehr als ein Drittel bleiben parteilos und heißen schlicht "Das Volk". Da wird nach Herzenslust über alle möglichen selbstgewählten Themen abgestimmt, politisch kommentiert, geschimpft, geflirtet. Das Niveau ist zum Teil erstaunlich hoch. Regelmäßig treffen sich auch die Parteichefs zum Chat, und man ist überrascht, wie zivil und sachorientiert es da zugeht. Politische Unterschiede werden nicht verwischt, dennoch wird miteinander kommuniziert. So etwas läßt sich sonst mit der Lupe suchen – und das sowohl im realen Leben wie in anderen Chatrooms. Und wie im RL wird ein Kanzler gewählt. Der heißt zur Zeit "Reto" (Urs Fähndrich), ist 18 Jahre alt und gehört der liberalen Internet-Partei IDL an. Erstaunlich ist vor allem die ruhige und im ganzen ausgeglichene Atmosphäre bei dol2day, die in der Vergangenheit auch während des Antifa-Medienrummels im Verlauf des diesjährigen Sommerlochs angehalten hatte.

Die Internet-Parteien bei dol2day sind im wesentlichen denen des wirklichen Lebens nachgebildet: Die traditionell mit Abstand stärkste Gruppierung ist die CIP, die Christdemokratische Internet-Partei. Die anderen im Bundestag vertretenen Parteien verfügen ebenfalls über entsprechende Cyber-Wurmfortsätze: Die Sozialdemokratische Internet-Partei (SIP), die Grünen im Internet (GII) und natürlich auch die PDS mit den Sozialistinnen im Internet (SII). Überdurchschnittlich stark sind auch die FDPler mit Internet den Liberalen (IdL).

Ganz individualistisch wird es bei den verschiedenenen Splitterparteien wie etwa der "AMFI" ("Alle Macht für Isengart"). "Diese Partei", so tönt Parteichef Isengart, "hat es sich zum Ziel gesetzt, Gott Isengart zum Alleinherrscher des Universums zu erheben". Wer jedoch glaubt, Isengart wolle sich entweder zum neuen Führer oder zum Super-Diktator ausrufen lassen, irrt gewaltig. Auch hier ist, wie im wirklichen Leben, vor allem political correctness angesagt. Schließlich, so Isengart, werde das Volk irgendwann über eine phantastische Bildung verfügen, und alle Probleme des Universums lösten sich in Luft auf. Isengart: "Es wird keine Kriege, keine Verfolgungen, keinen Musikantenstadl, keine Diskriminierungen, keine Nazis, keine Groschenromane, keine Armut, keinen Streit und keinen Haß mehr geben. Wer immer solch eine Welt bewohnen möchte, ist hiermit aufgefordert, sich uns freudigst anzuschließen." Sehr viele sind das freilich nicht. Ganze 14 Mitglieder konnten sich für Isengarts Vision von zivilgesellschaftlicher Endzeitlangeweile erwärmen.

Inzwischen gibt es aber auch Internet-Parteien, die im realen Leben keine Entsprechung finden. Zu ihnen gehört die FUN: "Freiheitlich–Unabhängig–National". Und die hat sich seit ihrer Gründung aus bescheidenen Anfängen als Splitterpartei seit Oktober dieses Jahres zur zweitstärksten Internet-Partei gemausert. Über 282 Mitglieder verfügt man mittlerweile und hat Sozialdemokraten, Liberale, Grüne und PDSler locker überrundet. Eine richtige rechte Volkspartei also. Damit ist zumindest im Internet die Strauß-Doktrin überholt, rechts von den Christdemokraten dürfe es keine nennenswerte Kraft geben. Und dies trotz der Tatsache, daß zwischenzeitlich durch alle möglichen Einflußmaßnahmen versucht wurde, diese Bewegung zu isolieren. Auch regelrechte Agents provocateurs hat es gegeben, die sich unter Namen wie "FUNOrgan" oder "NPDDeutsch" in die FUN einschlichen, politisch überdrehte Stellungnahmen abgaben, um sich nach ein paar Wochen als Grünen- oder PDS-Sympathisanten zu outen. Doch solche Gefahren scheint die FUN inzwischen überwunden zu haben.

Natürlich kann man sich fragen, ob solche Aktivitäten im Internet nicht von der Notwendigkeit der politischen Aktivität im realen Leben ablenken. Doch so einfach ist die Sache nicht. Hier hat sich nämlich etwas ereignet, das sich als ein revolutionärer Tabubruch erweisen könnte. Denn seit Habermas’ "Strukturwandel der Öffentlichkeit" hat sich eben dieser Begriff der Öffentlichkeit radikal gewandelt. Nicht mehr ein Kartell aus einem knappen Dutzend Polit-Magazinen, Tages- und Wochenzeitungen und ein paar TV-Sendern bestimmt, worüber berichtet und was totgeschwiegen wird. Die selbsternannten Herren der Diskurse von Habermas bis Antifa haben ausgedient. Zu seligen "Autonomen"-Zeiten funktionierte das noch ganz einfach: Erstens: Keinen Fußbreit den Faschisten! Zweitens: Kein Gespräch mit Faschisten! Drittens: Wer Faschist ist, bestimmen wir! – Damit ist Schluß.

Es genügt inzwischen nicht mehr, daß sich einfach nur ein paar Redakteure und Ressortleiter kurzschließen, um ein erwünschtes Thema auf die öffentliche Agenda zu setzen – oder es von dort fernzuhalten. Für diese Entwicklung ist do12day nur ein kleines Indiz. Das Internet hat die Öffentlichkeit in einer Schnelligkeit demokratisiert, die nicht ohne Auswirkungen auf die Informationsgewohnheiten einer interessierten jungen Generation bleiben wird. Die Mitglieder von do12day, ganz überwiegend zwischen 16 und 30 Jahre alt, belegen das.

Gewiß: Auch künftig werden politisch interessierte Jugendliche eine Minderheit bleiben. Denn gerade das Internet fordert einen geistig aktiveren Zugriff als der traditionelle, eher passive Fernsehkonsum. Dennoch: Das Informations- und Meinungsmonopol ist vorerst gebrochen. Vorerst. Denn schon versucht die politisch korrekte Diskurselite verlorenes Terrain über gerichtlich angeordnete Web-Filter (wie jüngst in Frankreich) und andere Maßnahmen wieder aufzurichten. Und es ist nicht sicher, daß sie damit keinen Erfolg haben werden. Wenn doch, dann bleibt immer noch die Website der aufständischen Anständigen: www.gesicht-zeigen.de .


 
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