© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    50/00 08. Dezember 2000

 
Glanz einer Epoche
Walter Benjamins "Berliner Kindheit um neunzehnhundert" neu herausgegeben
Konrad Pfinke

Ich hauste so wie ein Weichtier in der Muschel haust im neunzehnten Jahrhundert, das nun hohl wie eine leere Muschel vor mir liegt." Das neunzehnte Jahrhundert liegt nun ein volles Jahrhundert hinter uns, aber noch immer schimmert etwas von seinem Glanz in unseres hinein. Walter Benjamin, dem wir den Satz vom Weichtier verdanken, hat eines jener magischen Bücher verfaßt, die uns viel über eine unwiederbringlich vergangene Epoche – es ist die des Bürgertums – verraten.

Mit seiner "Berliner Kindheit um neunzehnhundert" legte er eines jener "Jahrhundertbücher" vor, die noch stilbildend wurden für manch Nachfolger. Eine solche Prosa, wie sie der Autor vor siebzig Jahren schrieb, hat es kaum ein zweites Mal in der deutschen Sprache gegeben. Nun hat der Suhrkamp-Verlag innerhalb seines Jubiläumsprogramms "50 Jahre Suhrkamp" eine bislang ungedruckte Frühfassung seiner autobiographischen Aufzeichnungen ans Licht gezaubert. Manches, das einem lieb geworden ist, muß man missen, aber es ist doch reizvoll, dem Autor über die Schulter zu schauen. Die "berühmten" Sätze sind schon zahlreich vorhanden, Weisheiten wie jene: "Sich in einer Stadt nicht zurechtfinden, heißt nicht viel. In einer Stadt sich aber zu verirren, wie man in einem Walde sich verirrt, braucht Schulung." Von der Siegessäule heißt es: "Sie stand auf dem weiten Platz wie das rote Datum auf dem Abreißkalender." Und dann vielleicht das Anrührendste, der Wunsch, ausschlafen zu können: "Ich habe ihn wohl tausendmal getan, und später ging er wirklich in Erfüllung. Doch lange dauerte es, bis ich sie darin erkannte, daß noch jedesmal die Hoffnung, die ich auf Stellung und ein sicheres Brot gehegt hatte, umsonst gewesen war."

Die kleinen Texte, Feuilletons ähnelnd, bergen mehr, als es bloße Kindheitserinnerungen sonst tun mögen. Sie schließen eine Zeit mit ein, die so anschaulich wie gebrochen wirkt. Pfaueninsel und Glienicke erscheinen wie die Markthalle am Magdeburger Platz, Bettler und Huren treten auf, Kindheitsfreuden und - rätsel werden aufgestellt. Die Sammlung wird in der neuen Ausgabe durch Schwarzweiß-Fotografien ergänzt, die uns einen Blick in bürgerliche Stuben, auf Bahnhöfe und falsche Burgen gestatten. Benjamins Traumwelt findet in ihnen eine Entsprechung, doch bleiben Poesie und Genauigkeit in der Schärfe der literarischen wie optischen Aufnahmen verschwistert. Der Suhrkamp-Verlag hat mit der Neuausgabe ein schönes, nein: ein sehr schönes Buch vorgelegt.

 

Walter Benjamin: Berliner Kindheit um neunzehnhundert. Giessener Fassung. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2000, 42 Mark


 
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