© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    50/00 08. Dezember 2000

 
Nicht erforscht, nicht gelehrt, nicht vermißt
Ein Sammelband über Probleme und Perspektiven der deutschen Militärgeschichtsschreibung
Geoffrey Murray

Geht man in einer beliebigen englischen Stadt in einen Buchladen, so findet man aller Wahrscheinlichkeit eine ganze Abteilung zur Militärgeschichte. Neben Clausewitz, der dort in jedem Fall präsent ist, stößt man auf Biographien von Feldherren und ganzen Reihen zu berühmten Schlachten. In Deutschland ist dies anders. Gesamtdarstellungen etwa zu den Weltkriegen sind unter allgemeiner Geschichte eingeordnet, inhaltlich bieten diese Gesamtdarstellungen Gesellschaft, Frauen und alles mögliche im Krieg, vom Kriegsgeschehen selbst erfährt man jedoch allenfalls die Rahmenhandlung. Die Ursache benennt Bernd Wegner von der Bundeswehruniversität Hamburg in dem Sammelband "Was ist Militärgeschichte?": "Operationsgeschichte wird an deutschen Universitäten weder erforscht, noch gelehrt, noch vermißt." Das hängt damit zusammen, daß man sich dort nicht in den Verruf bringen will, "applikative" Kriegsgeschichte zu liefern, zu deutsch: die Streitkräfte wissenschaftlich zu unterstützen. Auch im vorliegenden Band sind die Autoren bemüht, diesen Verdacht zu zerstreuen. Wolfram Wette läßt sich sogar erneut dazu hinreißen, seinen Privatkrieg gegen seinen ehemaligen Arbeitgeber, die Bundeswehr, vorzuführen. Wissenschaftliche Militärgeschichte heißt aber auch für die anderen Autoren anscheinend, auf keinen Fall verwertbare Ergebnisse zu liefern. Allerdings sind gerade die Herausgeber Thomas Kühne und Benjamin Ziemann, die aus der "jüngeren" Historikergeneration stammen (also um die 40 sind) bemüht, ihre Ergebnisse nicht allzu wohlfeil zur "moralisch-politischen Delegitimation, zu symbolischen Dechiffrierung und zur Dekonstruktion derjenigen sozialen und ökonomischen Zusammenhänge" zu verwenden, "in denen militärische Gewaltorganisation getragen und reproduziert wird". Zwar findet sich dieser Satz in ihrem methodisch versierten Überblick tatsächlich und ist leider nicht aus der Mottenkiste der Ideologiekritik hervorgeholt. Zuvor teilen sie jedoch nicht nur manch schüchterne Seitenhiebe auf die "Wehrmachtsaustellung" aus, sondern hinterfragen auch den gern bemühten Mythos eines spezifisch deutschen Militarismus zwischen 1871 und 1945. Dabei verweisen sie darauf, daß es sich beim Militarismusbegriff um eine undifferenzierte Schöpfung der Gegner des Militärs und seiner gesellschaftlichen Ausprägung handelt. Kühne und Ziemann plädieren nun für eine neue Militärgeschichte. Diese stellen sie sich integrativ und pluralistisch vor. Andererseits haben sie eine recht eindeutige Definition dessen anzubieten, was diese neue Militärgeschichte nun sein soll. Sie möge, so die Herausgeber, eine "historische Soziologie organisierter Gewaltverhältnisse" darstellen und die "spezifische Bestimmtheit des Militärs im Krieg wie im ‚Frieden‘" herausarbeiten.

Natürlich haben die weiteren Zulieferer der Beiträge je eigene Vorstellungen des Sujets. Der Berner Professor Stig Förster orientiert sich an Clausewitz, Anne Lipp von der Universität Tübingen möchte auch die Militärgeschichte als Kulturgeschichte betreiben, wobei sie selbst die "endlosen Ufer" eines solch weiten und damit unscharfen Konzeptes bemerkt, und der Amerikaner Roger Chickering fordert für das Zeitalter totaler Kriege eine "Totalgeschichte". Zu letzterem bemerkt der Tübinger Professor Dieter Langewiesche in seinem launigen Kommentar zum Band, daß dieser Vorschlag "eine Arabeske in der Wissenschaftsgeschichte" bleiben werde. Jeder sollte sein Metier im Eifer des Gefechts also nicht gleich zu einer Universalwissenschaft stilisieren. Einig sind sich die Autoren jedoch, daß eine Militärgeschichtsschreibung mit einem weiteren Blickfeld als die alte Kriegsgeschichte vonnöten ist. Freilich gehört dazu auch die in Deutschland vernachlässigte Operationsgeschichte, die oberhalb der Taktik und unterhalb der Strategik anzusiedeln ist.

Der Leser wird es bereits gemerkt haben: Der Band wendet sich nicht an den interessierten Laien. Er bietet keine Ergebnisse, vielmehr zeigt er Perspektiven auf. Daher wird er vornehmlich von Doktoranden und Habilitanden, vielleicht auch von interessierten Studenten gewinnbringend zur Hand genommen werden. Neben den Aufsätzen bietet er eine thematisch gegliederte, gut ausgewählte Bibliographie zur Militärgeschichte. Vielleicht trägt der Sammelband dazu bei, künftig auch in deutschen Buchläden zumindest eine kleine Ecke für die Militärgeschichte reservieren zu können. Neben englischen Klassikern wie Liddel Hart oder John Keegan könnten dort dann auch deutsche Historiker vertreten sein.

Thomas Kühne, Benjamin Ziemann (Hg.): Was ist Militärgeschichte? Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 2000, 359 Seiten, 78 Mark


 
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