© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    50/00 08. Dezember 2000

 
Bloß nicht nach Moskau
Bernhard Zürner präsentiert eine neue Deutung des "Unternehmens Barbarossa"
Baal Müller

Historiker sind bekanntlich rückwärtsgewandte Propheten. Indem sie die Scherben der Vergangenheit zu einem Bilde zusammenfügen, rekonstruieren sie es nicht bloß, sondern sie entwerfen, dem Künstler vergleichbar, eine hypothetische Welt. Die Notwendigkeit der Ergänzung der historischen Fakten, die – an jeder vergangenen Lebenswirklichkeit gemessen – äußerst arm erscheinen, ergibt sich bereits aus der simplen Tatsache, daß die Vergangenheit vorbei ist und stets nur vergleichsweise wenige Zeugnisse hinterlassen hat. Besäßen wir noch alle denkbaren Informationen einer jeweiligen Gegenwart, dann bräuchten wir diese nicht im Bilde zu fingieren – sie wäre allerdings auch nicht vergangen.

Bernhard Zürners Buch "Der verschenkte Sieg" trägt dieser doppelten Aufgabe des Historikers, zu sammeln und zu entwerfen, in jeder Weise Rechnung. Übersichtlich und in seiner plastischen, ja manchmal geradezu saloppen Sprache auch für den Laien verständlich, wird das umfangreiche Material zum deutschen Ostfeldzug aufbereitet und dessen Scheitern analysiert. Von der schließlich durchgeführten Strategie, die Sowjetunion an drei Flanken anzugreifen, die Kräfte aber in der Mitte, mit dem Ziel der Eroberung Moskaus zu konzentrieren, unterscheidet Zürner Hitlers "Urplan Barbarossa", den Hitler Anfang 1941 gefaßt und zunächst nur wenigen Vertrauten mitgeteilt habe. Der Kerngedanke dieses Planes sei gewesen, den deutschen Vorstoß nur zum Schein gegen Moskau zu führen, in Wahrheit aber das Schwergewicht auf die Operationen im Norden und vor allem im Süden, im Kaukasusgebiet, zu legen. Durch die möglichst schnelle Einnahme des kriegswirtschaftlich bedeutenden Leningrad sowie die Inbesitznahme der kaukasischen Ölfelder könnten dem von der rumänischen Ölproduktion abhängigen Reich neue Rohstoffe zugeführt und die sowjetische Ökonomie zerstört werden:

Innerhalb von nur sechs Wochen wäre nach Zürners Berechnung die Rote Armee infolge Treibstoffmangels bewegungsunfähig geworden. Aus gesundheitlichen Gründen habe sich Hitler in der entscheidenden Phase im Juli und August 1941 dann aber nicht gegen die Mehrheit seiner Generale durchsetzen können, mußte ihnen Ende September den einzigen südlichen Vorstoß, die siegreiche Schlacht bei Kiew, geradezu abringen, im übrigen aber, entgegen seiner Intuition und unter Mißachtung des militärischen Kräfteverhältnisses, den Angriff auf Moskau befehlen. Zürner diskutiert eingehend die Argumente für und gegen den Urplan Barbarossa, betrachtet das stets antagonistische Verhältnis von führenden Kreisen der Wehrmacht zu Hitler und kommt nicht umhin, Hitler in dieser Frage, ungeachtet anderer militärischer Fehlentscheidungen – und erst recht seiner sonstigen Politik –, ein strategisches Gespür zuzusprechen.

Großen Wert legt Zürner darauf, Hitler dennoch nicht als genialen Feldherrn erscheinen zu lassen, der "das Opfer seiner Generale" geworden sei; vielmehr behandelt er im letzten Kapitel des Buches das "gesammelte Widersachertum" dieses Mannes, der nun allerdings, sehr im Gegensatz zu den vorangegangenen ökonomisch-militärischen Analysen, wieder eine diabolische Rolle einnimmt. Die im Vorwort zwar angekündigte, im weiteren Verlauf des Werkes aber zugunsten der zeitgeschichtlichen Erörterung zurückgestellte Untersuchung des "Willensphänomens Hitler" erfolgt nun am Ende, unter lebensphilosophischen Gesichtspunkten, etwas unvermittelt und schematisch. Im Sinne der Gesamtkonzeption wäre es sinnvoller gewesen, die methodische Grundlegung dem Buch voranzustellen; ungeachtet dessen bieten Zürners Untersuchungen durch ihre kriegswirtschaftliche Ausrichtung und ihre nicht durch vordergründige moralische Wertungen verstellte Perspektive eine neue und interessante Sicht von Hitlers Barbarossa-Strategie und damit des Krieges insgesamt.

Bernhard Zürner: Der verschenkte Sieg. Warum Hitlers Urplan "Barbarossa" 1941 scheiterte. Druffel Verlag, Berg 2000, 240 Seiten, 36 Mark


 
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