© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    50/00 08. Dezember 2000

 
Ein Erleuchteter als gefährlicher Dunkelmann
Internationale Tagung zu Leben und Werk des schlesischen Magus Jakob Böhme in Görlitz
Wolgang Saur

Das alte Görlitz fällt zur Neiße hin steil ab. Wandert man durch die engen Straßen und noch fast mittelalterlichen Gassen zum Vorwerk an der gotischen Peterskirche hinab und dann auf der Uferstraße entlang, wird der Blick bald angezogen von einem kleinen roten Haus, direkt am Wasser. Es ist das sorgfältig restaurierte erste Wohnhaus Jakob Böhmes (1575–1624). Dort lebte der vielleicht tiefsinnigste Denker der Zeit um 1600, ein theosophischer Grübler, mit dem – so die Meinung vieler Fachleute – die deutsche Philosophie erst ihren Anfang nahm.

Man nannte ihn "eine Wundererscheinung in der Geschichte der Menschheit" (Schelling), und seine Wirkungen sind bis heute unabsehbar. In Görlitz lebte er als armer Schuster (seit 1599) und Erleuchteter, auch verfolgt und tyrannisiert von der örtlichen Kirchenbehörde, bis zu seinem Tode. Sein 375. Todestag (1999) und 425. Geburtstag (2000) haben Stadt und Region nun während zweier Jahre veranlaßt, sich dem Leben und Werk Böhmes mit einer staunenswerten Fülle von Projekten erneut zuzuwenden, darunter einer ganz unter europäischem Vorzeichen stehenden "Internationalen Jakob-Böhme-Ehrung".

Doch wer war derjenige, dem sie galt? Zur Gestalt Böhmes gehört beides: eine spezifische Zeitsituation und die universale Schau des Kosmos. Licht und Finsternis ringen in den visionären Texten des schlesischen Mystikers miteinander, der Teufel fegt über den Menschen in seiner Angst hinweg, bis schließlich die Liebe Gottes das Grauen und die zerstörerische Kraft des Bösen überwindet. Sehr im Unterschied zur kontemplativen Mystik des Vedanta oder Meister Eckharts ist Böhmes Herz in Aufruhr und der von ihm imaginierte Weltprozeß auf seinem Heilsweg zu Gott in schierer Dynamik, "weil Himmel und Hölle in dieser Zeit in uns im Streite, und Gott also nahe ist". Nicht genug, daß er mit Trauer und Verzweiflung den Haß der Parteien wahrnahm, er sagte für die Zukunft noch Schlimmeres voraus, nämlich den "großen Krieg" und die "Zerbrechung vieler Städte und mächtiger Länder". Tatsächlich hat er noch den Ausbruch des großen Krieges in Deutschland erleben müssen; in seine letzten Jahre seit 1618 fallen fast all seine Schriften. Vor diesem Hintergrund und bedrängt vom erstarrten Luthertum seiner Kirche ("Wie tot ist der jetzige Glaube!"), zumal in dürftigen, engen Verhältnissen, mußte ein prophetischer Mensch wie Böhme "in der Quetsche" stecken. Und doch ist, gemäß der Aufforderung eines geheimnisvollen Fremden, "Jakob herausgekommen" aus seiner Verborgenheit und das mächtigste Genie einer protestantischen Gottesschau geworden.

Böhme – so die geistesgeschichtlichen Koordinaten – steht in der Linie der deutschen Mystik seit Eckhart und der aus uraltem Erbe schöpfenden Naturphilosophie, die ihren gewaltigsten Ausdruck in Paracelsus gefunden hat. Weiterhin bildet er das bedeutendste Glied zwischen den Spiritualisten seit Luther und dem späteren Pietismus. Von da aus ist er in die Philosophie des deutschen Idealismus eingegangen und hat die Romantik geistig mitbegründet. Das Resultat dieses Prozesses war jenes Weltbild, das – als universale kosmologische Schau und "konkrete Wirklichkeitswissenschaft" (B. Willms) zugleich – als "spezifischer deutsche Beitrag zur Philosophie angesehen werden" kann (Bossenbrook). Darüber hinaus aber führte der letztlich universelle Gehalt zur Rezeption im Ausland, das heute von Amerika bis nach Japan reicht. Zu Recht hat Gerd-Klaus Kaltenbrunner deshalb resumiert: "Es gibt eine ökumenische ’Böhme-Kirche‘."

Die biographischen Eckdaten sind schnell erzählt: 1575 als Bauernsohn nahe Görlitz geboren, erhält Böhme, da körperlich zu schwach für die Landwirtschaft, eine Ausbildung als Schuster. Schon als Kind hat er Visionen vom verborgenen Licht Gottes in der Welt; solch mystische Offenbarungen erneuern sich auch in seinem späteren Leben immer wieder. Seit 1599 in Görlitz, verfaßt er dort 1612 ein erstes theosophisches Hauptwerk "Morgenröte im Aufgang". Es bleibt Manuskript. Zum Eklat kommt es, weil eine der privat angefertigten Abschriften an den lutherisch-orthodoxen Hauptpastor gelangt, dem die spekulative Weltsicht eines Laien und Autodidakten ein Skandalon ist.

Unerbittlich zum Schweigen gebracht, bleibt Böhme tatsächlich sechs Jahre stumm, gibt 1619 aber dann doch dem, was er als Ruf Gottes in sich fühlt, sowie dem Drängen vonFreunden und adligen Gönnern nach. Auch durch deren Unterstützung vermag er in den ihm verbleibenden Jahren bis 1623 eine Fülle von Werken und Briefen zu Papier zu bringen, die freilich alle (bis auf eine Ausnahme) erst nach seinem Tod im Druck erscheinen werden und vorerst nur in handschriftlicher Form unter den mystischen Kreisen Schlesiens kursieren. Die Konflikte mit der Amtskirche halten bis zu seinem Tod und darüber hinaus an: Dem Sterbenden wird ein "dogmatisches Examen" abverlangt, der Oberpfarrer verweigert das kirchliche Begräbnis, Aufgehetzte schänden das Grab.

Ein schwieriger Autor, an dem Leser verzweifeln

Böhme ist ein schwieriger Autor. Seine Schriften können den wohlmeinenden Leser mitunter zur Verzweiflung treiben. Als dunkel und kompliziert empfanden ihn schon die Zeitgenossen. Deshalb erfordert sein Studium eine beträchtliche Geduld. Sieht man einmal überhaupt von der Provokation metaphysische Spekulation ab, bieten sich drei Erklärungen für den hermetischen Charakter von Böhmes Texten an. Zunächst: ihr Verfasser war Autodidakt. So fehlten ihm logische Schulung und gelehrtes Rüstzeug des Humanisten. Das erklärt kompositorische Mängel, logische Unstimmigkeiten und begriffliche Inkonsequenzen. Kompliziert werden Böhmes Begriffe vollends durch die Verwendung alchemistischer Termini und Denkmodelle. Schließlich ist Böhme eine ganz spezifische Sprachphantasie eigen, deren grobkörnige und plastische Redeweise ihn zwar zu einem genialen Schriftsteller macht, dessen mythische Sprachbilder jedoch in eine seltsame Dunkelheit und Düsternis getaucht sind. Freilich wäre es falsch, diesen Befund nur kritisch zu veranschlagen. Zu Recht urteilt Gerhard Wehr, Nestor der christlichen Esoterikforschung: "An Stelle eines linear und logisch fortschreitenden Denkens tritt eine Circumambulatio, eine Umkreisung der Mitte. Die Gleichnisbilder, die gleichsam organisch aus den Wortlauten der Böhme-Schriften herauswachsen, wollen so entgegengenommen werden, daß man diese bald kreisförmige, bald spiralförmige Bewegung anschauend, meditierend mitvollzieht." Damit ist aber auch ein Aspekt der Modernität Böhmes angedeutet.

In großer Übereinstimmung mit dem anonymen Porträt Böhmes, das heute im Museum im Görlitzer "Barockhaus" zu sehen ist, beschreibt sein erster Biograph Franckenberg den Philosophen: "Seine äußerliche Leibesgestalt war verfallen und von schlechtem Aussehen, kleiner Statur, niedriger Stirne, erhabener Schläfe, etwas gekrümmter Nase, grau und fast himmelbläulich glitzernden Augen, sonsten wie die Fenster am Tempel Salomonis, kurz-dünnen Bartes, kleinlautender Stimme, doch holdseliger Rede, züchtig in Gebärden, bescheidentlich in Worten, demütig im Wandel, geduldig im Leiden, sanftmütig von Herzen. Sein Geist hatte Gott über alle Natur hocherleuchtet."

Dies geschah im Jahr 1600: Die "große Schau" ließ Böhme das Licht der Gottheit in der Natur erkennen und schenkte ihm als Vorwegnahme des Eschaton jene Divination, welche in die Schöpfung vor dem Sündenfall zurückführt: "So haben wir Menschen noch ein höheres Wissen und Erkenntnis, denn wir können allen Dingen ins Herz sehen, wes Wesen und Eigenschaft es sei." Dieses "Urerlebnis" ließ den Schuster zu einem großen Vertreter der Signaturenlehre werden. Diese beschreibt er sehr deutlich in "De Signatorum Rerum": "Die ganze äußere sichtbare Welt mit all ihrem Wesen ist eine Bezeichnung oder Figur der inneren geistlichen Welt; alles was im Inneren ist, und wie es in der Wirkung ist, also hats auch seinen Charakter äußerlich: Gleich wie der Geist jeder Kreatur seine innerliche Geburtsgestalt mit seinem Leibe darstellt und offenbaret." Das führt den Menschen dazu, die Wirklichkeit nicht als bloßes Faktum hinzunehmen, sondern die Erscheinungen als tiefsinnige Chiffren und den Kosmos im ganzen als universale Schrift Gottes zu lesen. Vorausgesetzt wird, daß Gott sich auch in der natürlichen Welt offenbart und alles Irdische auf das Transzendente hin verweist. Deshalb sagt Hamann später, Natur und Geschichte seien die beiden großen Kommentare Gottes zu seiner Offenbarung. Die "Physiognomischen Fragmente" Johann Kaspar Lavaters, an denen Goethe einen Anteil hat, sind davon ebenso inspiriert wie noch Oswald Spenglers Geschichtsphilosophie .

Beunruhigt über die Frage nach dem Bösen in der Welt

Diese entheistische und auch synergetische Lehre veranschlagt die Rolle des Menschen im göttlichen Heilswerk hoch. Denn die Mysterien der Schöpfung sollen nach Paracelsus eröffnet werden, "welches ohne den Menschen nit hätt’ mögen geschehen. Und Gott will, daß die Dinge sichtbar werden, die unsichtbar sind." Denn die noch offene Schöpfung vollendet erst der Mensch zur "güldenen Welt". Er vermag dies, indem sein Dasein sich wie der Mikrokosmos zum Makrokosmos verhält. Solche Analogie ist nicht bloß strukturell, sondern als wesentliche zu verstehen. Wendet der Mensch sich nach innen, so findet er darin die ganze Welt mit all ihren Potenzen vor und vermag bis ins Zentrum vorzudringen. Dieses allgemein mystische Thema des Aufstiegs wird bei Böhme jedoch konterkariert durch seinen Dynamismus, Voluntarismus und Dualismus, durch die er sich stark von anderen spekulativen Systemen unterscheidet. Heißt es doch bei ihm von der Gottheit, daß sie "nicht stille stehet, sondern ohn Unterlaß wirket und aufsteiget als ein Ringen, Bewegen oder Kämpfen, gleichwie zwei Kreaturen". Nämlich: Gut und Böse, Himmel und Hölle streiten in der Schöpfung miteinander und so auch im menschlichen Herzen, denn ein jeder ist "sein eigener Gott und auch sein eigener Teufel".

Böhmes Dualismus entspringt tiefer Beunruhigung über die Frage nach dem Bösen in der Welt und seinem Versuch, es spekulativ aus dem Urgrund Gottes selbst herzuleiten. Damit erhält aber der Begriff Gottes etwas tief Zweideutiges, das erst in die Lehre von der Dreizahl wieder aufgehoben scheint: "Das Wesen aller Wesen ist nur ein einiges Wesen, scheidet sich aber in seiner Gebärung in zwei Principia als in Böses und Gutes, in Feuer und Licht: und aus diesen zweien ewigen Anfängen in den dritten Anfang." Der Grimm verwandle sich in Freude, "wie das Licht aus der Kerze brennet": Begreiflich, daß Hegel hier die dialektische Denkfigur vorgebildet fand.

Verstetigung der Forschung über Böhme angestrebt

Ein solch außerordentlicher Denker kann nicht eigentlich populär werden. Vor wenigen Jahren noch galt auch in Görlitz die von der sowjetischen "Geschichte der Philosophie" diktierte offiziöse Lesart, derzufolge Mystiker und Religionsphilosophen wie Böhme als Irrationalisten und gefährliche Dunkelmänner anzusehen seien. Um so beachtlicher ist das Engagement, mit dem die Stadt Görlitz im Verein mit der ganzen Region Oberlausitz-Niederschlesien, polnischen Bürgern auf der anderen Neiße-Seite, der evangelischen Kirche und der Universität Breslau um die Böhme-Forschung bemüht ist. Diese Aktivitäten haben nun durch die beiden Gedenkjahre einen mächtigen Schub erhalten. Um die Auseinandersetzung mit dem schlesischen Magus auf eine neue Stufe zu heben, wurde jüngst eine große Anzahl neuer Projekte realisiert und Initiativen gestiftet. Allem voran ist die ständige Ausstellung über Jakob Böhmes Leben und Werk – ein kleines Museum für sich – im Barockhaus der Neißestraße nach modernen didaktischen Gesichtspunkten neu gestaltet worden. Filmische Dokumentationen und Kirchenmusiken lösten sich mit Editionsprojekten und Sonderausstellungen ab, bis hin zu einer multimedialen Inszenierung "Der Gottesacker blüht". Diese Bemühungen fanden nun ihren glanzvollen Abschluß in einer von Deutsche und Polen realisierten Handschriften-Ausstellung und im Internationalen Symposium.

Vom 27. bis 30. Oktober hatte sich eine erlesene Runde von Böhme-Experten an der Neiße eingefunden, um dort über Werk und Wirkungsgeschichte zu sprechen. Neben deutschen Wissenschaftlern fanden sich Kollegen aus Polen, Spanien, den USA, ja sogar aus Japan zum Dialog ein. Neben dem eigentlichen Gelehrtenaustausch hat das hochkarätige Treffen aber auch über die gegenwärtige Situation hinausgreifende Ergebnisse eingetragen. Alle Beteiligten haben sich über eine "Verstetigung" der Böhme-Rezeption verständigt und zu diesem Zweck einen Gründungsbericht verfaßt, in dem eine Intensivierung und Koordinierung der Forschung für die Zukunft konzipiert werden – mit einer noch offenen institutionellen Struktur. Verantwortlich als Sprecherin der Arbeitsgruppe und Kontaktperson ist Annerose Klammt, zu erreichen über die Städtische Sammlungen am Demianiplatz 1 (Tel.: 0 35 81 / 67 13 51).


 
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