© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    51/00 15. Dezember 2000

 
BLICK NACH OSTEN
Janusköfige Nostalgiepolitik
Carl Gustaf Ströhm

In der Zeit des "realen Sozialismus" lautete eine zynische Ostblock-Weisheit: "Nichts ist in der Sowjetunion so schwierig, wie die Vergangenheit richtig vorauszusagen". Seit einigen Tagen zeigt sich, daß dies auch für das post-sowjetische und post-kommunistische Rußland zutrifft, denn auf Vorschlag des Präsidenten Wladimir Putin (und mit Unterstützung der Duma) wurden in Rußland zwei Entscheidungen von weitgehend symbolischer, zugleich aber tiefgehender Bedeutung gefällt.

Unter Putin wird die vom sowjetischen Diktator Stalin "erfundene" sowjetische Nationalhymne ab 1. Januar 2001 erneut offizielle Hymne der Russischen Föderation. Zugleich hat der russische Präsident bekanntgegeben, die Nationalfahne Rußlands bleibe zwar weiß-blau-rot – aber die russischen Streitkräfte erhielten (oder behielten) wieder die alten sowjetischen Fahnen: rot mit Hammer und Sichel sowie dem Sowjetstern.

Putin begründete dies ausdrücklich mit der Erinnerung an den sowjetischen Sieg im Frühjahr 1945 – das heißt mit der Eroberung (politisch korrekt: "Befreiung") Mittel- und Osteuropa durch die Rote (sowjetische) Armee.

Hier aber zeigt sich, wie der "neue" russische Präsident sich selbst und sein Land – ob bewußt oder unbewußt, sei dahingestellt – in eine schwere Identitätskrise manövriert. Wie kann Moskau gegenüber den vom Kommunismus und der Sowjetherrschaft befreiten Staaten und Völkern glaubhaft argumentieren, es habe mit den Übeltaten und Verbrechen des sowjetischen Systems nichts zu schaffen – wenn gleichzeitig die rote Fahne des Kommunismus das Symbol seiner bewaffneten Macht bleibt?

Im Innern Rußlands wirkt die Maßnahme noch grotesker: denn Putin bestätigte, daß der zweiköpfige Zarenadler weiterhin das Staatswappen Rußlands sein wird. Gleichzeitig wird aber die rote Fahne der Zarenmörder bei jeder Parade und womöglich jedem Staatsbesuch auftauchen. Dazu wird dann die Melodie einer Hymne erklingen, deren Text lautete: "Es lebe unser freies Vaterland, die einige und mächtige Sowjetunion" und "Stalin hat uns erleuchtet".

Natürlich wird Putin einwenden, die Hymne werde ohne Text gespielt. Aber ist das nicht so, als würde jemand das Horst-Wessel-Lied ohne Text erklingen lassen? Und was werden sich die Präsidenten der vom Kommunismus befreiten Staaten denken, wenn man sie künftig auf dem Moskauer Flughafen mit der Stalinhymne und einer roten Sowjetfahne begrüßt? Der alte Jelzin, was immer man sonst gegen ihn einwenden möchte, hat aus seiner Datscha bereits heftig und negativ reagiert: Fahne und Hymne erinnerten ihn an "widerliche" kommunistische Parteiversammlungen.

Vielleicht ist Putin ein Zyniker, der wie ein Zirkusreiter gleichzeitig auf zwei Pferden stehen will: Dem russischen Antikommunismus – und dem russischen Kommunismus. Die psychologischen und praktischen Folgen seiner Nostalgiepolitik sind beträchtlich. Sie zeigen, daß auch das heutige Rußland einen Januskopf trägt: Nach Belieben holt man einmal den Zarenadler, dann aber wieder den "guten alten Stalin" aus dem Kasten. Mit seiner neuesten Aktion hat Putin auch die weitverbreitete Legende widerlegt, er sei ein besonderer "Freund" der Deutschen. Nicht jeder, der fließend Deutsch spricht, muß ein Deutschenfreund sein. Offenbar ist die Prägung Putins durch das KGB doch schwerwiegender, als manche naiven Bewunderer annehmen. Oder weiß Putin am Ende selber nicht, wie es mit Rußland weitergehen soll? Das eine wäre so schlimm wie das andere.


 
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