© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    51/00 15. Dezember 2000

 
Die verlorene Ehre der Sebnitzer
"Bild"-Zeitung: Seit Heinrich Bölls scharfer Kritik haben sich die Methoden des Massenblatts nicht geändert
Peter Lohmann

Die beklemmende Geschichte um den angeblichen Mord an dem sechsjährigen Joseph aus Sebnitz aus angeblich fremdenfeindlichen Motiven weckt unangenehme Erinnerungen an eine Zeit vor fast dreißig Jahren, in der die Bundesrepublik nicht weniger als heute erfüllt war von einer seltsamen Hysterie. Nur mit dem Unterschied, daß der Gegner damals links stand und heute rechts. Aber so wenig die Bundesrepublik damals Gefahr lief, in einer von der RAF angezettelten Revolution unterzugehen, so wenig droht uns heute die Machtübernahme durch die NPD. Beides sind gezielt geschürte Ängste, bei deren näheren Betrachtung über die medialen Ursachen dieser Hysterie wir immer wieder auf dasselbe Massenblatt stoßen, die im Springer-Verlag herausgegebene Bild-Zeitung.

In diesem Klima entstand 1974 die Erzählung "Die verlorene Ehre der Katharina Blum" des Literatur-Nobelpreisträgers Heinrich Böll (1917–1985). Darin schildert er – inspiriert durch einen authentischen Fall – anhand des Schicksals der jungen Katharina Blum, wie auch ein vollkommen unbescholtener Mensch unaufhaltsam in die Mangel einer sensationslüsternen Massenpresse geraten kann und dabei unrettbar verlorengeht.

Durch ihre Zufallsbekanntschaft mit einem Kleinkriminellen ohne terroristischen Hintergrund gerät die unpolitische Katharina Blum zuerst in das Visier einer unermüdlichen Justiz, die überall Linksterroristen sieht und gemeinsame Sache mit der Zeitung macht. Die schlachtet den Fall unter Mißachtung aller Persönlichkeitsrechte des Opfers virtuos auf der öffentlichen Ebene aus und geht dabei skrupellos mit dem um, was sie als "Wahrheit" versteht. Die engsten Freunde erkennen Katharina in diesen Berichten, in denen die Wahrheit nach Belieben gebogen wird, nicht mehr wieder, sondern geraten selbst zunehmend in den Sog der existenzvernichtenden Medien-Maschinerie. Katharina Blum verliert dabei ihre Ehre, ihre menschliche Würde, ihre Umwelt geht auf feindselige Distanz zu ihr. Schon im Vorwort macht Böll keinen Hehl daraus, wen er mit der Zeitung meinte, die Ähnlichkeiten mit der Bild-Zeitung seien "weder absichtlich noch zufällig, sondern unvermeidlich".

Der Fall Sebnitz zeigt, daß sich die Methoden auch mehr als 25 Jahre nach Erscheinen von Bölls scharfer Abrechnung mit der Bild-Zeitung nicht geändert haben. Lediglich das Zielobjekt ist jetzt ein anderes, und so liest es sich wie eine Negativ-Vorlage für Sebnitz. Böll war damals heftigsten Angriffe gerade von seiten der Konservativen ausgesetzt, die ihm Gesinnungsnähe zum Linksterrorismus vorwarfen.

So stellt sich doch vor diesem Hintergrund die Frage, ob es jetzt nicht an der Zeit wäre für eine späte Ehrenrettung für des "Alt-Linken" Böll – für das Eingeständnis der heute attackierten Konservativen, wie recht er doch hatte mit seiner Kritik an "faschistoiden" Methoden, die heute nur allzu leicht gegen jeden, den die Medien als "faschistoid" ansehen, angewandt werden. Wurden damals bedenkenlos politisch links Stehende mit dem Terror der RAF gleichgesetzt, so funktioniert heute derselbe Reflex erstaunlicherweise auch in eine andere Richtung, und flugs sind die, die zu Bölls Zeiten als Konservative noch zum staatstragenden Establishment gehörten, jetzt dank der Medien auf einer Ebene mit der NPD und den ihr zugerechneten Gewalttätern.

Böll ging in seiner Erzählung ausdrücklich der Frage nach, "wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann". So findet sich am Ende seine Heldin wie ein gehetztes Tier in der Enge wieder und erschießt aus Rache den für ihren Ehrverlust verantwortlichen Reporter der Zeitung. Die Sebnitzer haben auf ihren Ehrverlust (noch) nicht mit Gewalt reagiert. Ihr Ehrverlust läßt sich vermutlich in der kollektiven Schuldzuweisung leichter ertragen als der eines einzelnen Menschen. Aber was ist, wenn sich der nächste Verdacht dieser Art auf einen Einzelnen fokussiert? Wird nicht gerade dadurch von den Medien jene gewaltträchtige Situation heraufbeschworen, vor der sie doch immer so "redlich" warnen? Sind es nicht offenbar sie selbst, die den Konflikt geradezu herbeireden?

Vielleicht wäre es jetzt an der Zeit, in der betretenen Phase nach dem Platzen des Falls Sebnitz einmal die Frage zu stellen, wieviel Gewalt eigentlich von verantwortungslosen Medien ausgeht, wie viele unschuldige Opfer sie mit ihren Kampagnen auf dem Gewissen haben und wie viele Existenzen sie dabei gnadenlos vernichtet haben. Vielleicht tut sich gerade hier ein neues weites Feld auf für den Kriminologen und designierten niedersächsischen Justizminister Christian Pfeiffer, der sich in dieser Affäre durch seine mitläuferhafte Vorverurteilung der Sebnitzer Bürger auch nicht gerade mit Ruhm bekleckert hat.


 
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