© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    51/00 15. Dezember 2000

 
Ende der fürsorglichen Belagerung
Altkanzler Helmut Schmidt mahnt die Europäer, Zivilcourage einmal gegenüber Washington zu zeigen
Ulrike Imhof

Der Sozialdemokrat Helmut Schmidt sei bislang der einzige Bundeskanzler gewesen, der sich "vor den Amerikanern nicht krumm" gemacht habe. Hans Ulrich Kempski, journalistischer Begleiter des Bonner Personals seit Adenauers Tagen, mag mit diesem Urteil vielleicht ein wenig übertreiben. Aber vom wahren Kern seiner Behauptung können sich jetzt die Leser von Schmidts jüngstem Werk überzeugen. Erschienen kurz vor dem EU-Gipfel in Nizza, wirkt es mit seinem Anti-Amerikanismus geradezu provozierend.Wenn die Europäer im 21. Jahrhundert noch weltpolitisch eine Rolle spielen wollen, so des Alt-Kanzlers zentrale Aussage, müssen sie sich von der politischen, geistigen und ökonomischen US-Bevormundung befreien.

Ausgerechnet der anglophile Hanseat und Bewunderer der "geostrategisch" planenden und agierenden Ostküsten-Elite stellt die einzig verbliebene Supermacht zwecks Begründung dieser These in Umrissen als "Reich des Bösen" dar. Exportiere doch die politische Klasse Washingtons, in nahtloser Übereinstimmung mit den Banken und Investmenthäusern der Wall Street, global ihren "moralisch rücksichtslosen, sozial verantwortungslosen Raubtierkapitalismus". Dabei versuche der "Weltpolizist", eingeleitet bereits mit der Proklamation einer "neuen Nato", die europäischen Bündnispartner im Sinne seines konfliktträchtigen Pan-Interventionismus als "Hilfspolizisten" einzuspannen. Alteuropäisch angewidert warnt Schmidt zudem vor den Folgen der heute schon verfestigten Dominanz einer "minderwertigen Pseudokultur" der vulgären US-Unterhaltungsindustrie, die mit ihren "abseitigen Vorstellungen von der Normalität des Lebens" die kulturellen Identitäten auf jedem Kontinent überwuchere.

Schmidt plädiert statt dessen für die "Selbstbehauptung Europas" in einer Welt, in der China, Rußland und Indien der US-Dominanz ein baldiges Ende setzen werden. Von den USA, wo man sich des "bevorstehenden Rückgangs der amerikanischen Vorherrschaft noch nicht recht bewußt" sei, sollten sich die Europäer zeitig emanzipieren – hierfür brauche man Zivilcourage, die Schmidt aber weder bei Schröder und Fischer noch sonst an einem europäischen Kabinettstisch entdecken kann.

Die Brüsseler Integrationspolitik, vor allem aber die Wirtschafts- und Währungsunion im Zeichen des Euro, findet in Schmidt einen entschiedenen Fürsprecher. Wohl auch, weil er hofft, daß der alte Kontinent dann die Kraft aufbringen könnte, um den US-Finanzimperialismus einzudämmen. Schmidt erinnert hier an sein Lieblingsprojekt, das Oskar Lafontaine genau vier Monate lang verfolgen durfte, bevor er als Finanzminister zurücktreten mußte: eine globale Finanz- und Wettbewerbsordnung, die den Primat des Politischen gegenüber der entfesselten share holder value-Ökonomie zurückgewinnt und "das europäische Prinzip des Wohlfahrtsstaates" durchsetzt.

Europas zukünftige Architektur, die Umrisse einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, die Voraussetzungen für die Ausbildung "kultureller Identität" und die Sicherung des "Wohlfahrtsstaates" vermag Schmidt indes nur vage zu umschreiben. Unklar bleibt, wie sich der von Schmidt vehement verteidigte Nationalstaat, die geforderte Begrenzung des Brüsseler Zentralismus, die Ablehnung einer EU-Verfassung mit dem für unabdingbar erachteten evolutionären Integrationsprozeß vereinbaren lassen. In diesen Kapiteln wirken Schmidts Ausführungen nicht selten fahrig bis naiv.

Dafür entschädigt der Analytiker und allemal der immer noch bissige Polemiker Schmidt. Gerade seinen Kollegen in der Zeit kann er einige schwer verdauliche Happen servieren. Sozialpädagogische Gemüter wie Robert Leicht dürften dabei wohl vermuten, das exklusive Copyright dafür läge "rechtsaußen". So dekretiert Schmidt unumwunden: Die "Redensart" von der multikulturellen Gesellschaft offenbare nur eine "illusionäre Wunschvorstellung": "In Wirklichkeit entstehen Ghettos verschiedener Nationalität." Daraus folgert der Pragmatiker, daß die "Grenzen der Aufnahmefähigkeit" für "Migranten" längst "überschritten" seien: "Es wird Zeit, daß sich Regierungen und Parlamente eingestehen, daß sie weitere Zuwanderung gesetzlich begrenzen und kanalisieren müssen, wenn sie eine moralische und politische Destabilisierung der Bevölkerung vermeiden wollen." Ähnlich scharf, an "Schmidt-Schnauze" erinnernd, fertigt der "Meister des Realen" (Harald Steffahn) unsere "68er Bellizisten" ab, die "idealistisch" für Washingtons Kosovo-Krieg trommelten. Und knackig kurz weist der Oberleutnant a.D. jene zurecht, die im US-Interesse die türkische EU-Mitgliedschaft fordern: Das komme einer Ausweitung der EU nach Asien gleich und dies sei "größenwahnsinniger Unfug".

Treffende Bemerkungen, die manchen vielleicht noch einmal mit dem Schicksal hadern lassen: Hursts sogenanntes Tor von Wembley 1966 und die Ablösung Schmidts im Herbst 1982 durch eine Figur wie Helmut Kohl – ach, wär’ einem das doch erspart geblieben!

 

Helmut Schmidt: Die Selbstbehauptung Europas. Perspektiven für das 21. Jahrhundert, DVA, München-Stuttgart 2000, 254 S., 42 Mark


 
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