© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    52/00-01/01 22. Dezember / 29. Dezember 2000


"Wir sind Opfer der Geschichte"
Interview: Der lettische Außenminister Indulis Berzins über das Verhältnis zu Rußland und nationale Gedenkkultur
Carl Gustaf Ströhm/Martin Pfeiffer

Herr Außenminister, wie schätzen Sie die aktuelle Lage Lettlands ein? Welche Probleme haben Sie gegenwärtig mit Rußland?

Berzins: Ich sehe keine besonderen Probleme in unserer Beziehung zu Rußland. Diese Beziehungen sind Teil der westlichen bzw. der europäischen Beziehungen mit Rußland, denn wir werden der EU und der Nato beitreten. Auf Dauer gesehen werden wir daher gute Beziehungen mit Rußland haben, sehr positive und aktive Beziehungen, da wir jener EU-Staat sein werden, der Rußland am nächsten liegt. In allen offiziellen Dokumenten und in den Aussagen von Herrn Putin werden die EU und Europa als die wichtigsten Partner Rußlands bezeichnet. Wenn Sie auf die Landkarte schauen, ist das auch ganz klar.

Halten Sie das Verhalten der russischen Diplomatie, der öffentlichen Meinung in Rußland und sogar einiger russischer Politiker Lettland und den anderen baltischen Staaten gegenüber für normal? 

Berzins: Ich möchte vermeiden, Rußland Vorschriften zu machen, Rußland muß wissen, wie es mit der Vergangenheit umgeht. Aber ich glaube, daß es für Rußland wichtig ist, die Geschichte in einer gesamteuropäischen Weise zu betrachten, denn ich halte Rußland für einen Teil von Europa. Ich spreche nicht über die EU, ich spreche über Europa. Rußland ist Mitglied der OSZE, Rußland ist Mitglied des Europarates – was bedeutet, daß wir bis zu einem gewissen Grad dieselben Werte vertreten. Die Rolle Rußlands sollte weder unterschätzt noch übertrieben, sondern einfach verstanden werden. Ich glaube, daß man in Europa Rußland und seine wirtschaftliche Entwicklung und seine Fähigkeiten nicht versteht. Im Gegenzug ist es wichtig für Rußland, zu verstehen, was derzeit auf der Welt vorgeht. Unser Standpunkt ist sehr klar, wir arbeiten mit vielen internationalen Organisationen zusammen, und es ist für jedermann klar, daß die russischen Beschuldigungen einfach nicht zutreffen. Wie Sie aus den Aussagen der EU-Präsidentschaft über unser Staatsbürgerrecht, über unsere Sprachgesetze und über den Integrationsprozeß in Lettland erkennen können, glaube ich wirklich, daß einige europäische Länder von unserem Integrationsprozeß lernen können, denn es handelt sich dabei nicht nur um ein Erbe der Okkupation, nicht nur um Probleme zwischen Russen und Letten, sondern auch zwischen den Generationen.

Warum besteht Ihrer Meinung nach Rußland auf der Formel, daß Lettland und die anderen beiden baltischen Staaten sich 1940 freiwillig der Sowjetunion angeschlossen hätten? 

Berzins: Ich verstehe nicht, warum, denn es gibt dafür keinen echten Grund, denn andererseits müßten wir über Rußland als Aggressor sprechen oder annehmen, daß Rußland die grenznahen Gebiete zurückgewinnen will. Ich glaube aber, daß die Russen sowie andere auch lernen, mit Europa zusammenzuleben. Rußland lernt Demokratie und Marktwirtschaft. Ich bin grundsätzlich sehr optimistisch eingestellt, was die Zukunft Rußlands betrifft. Es sind gute Leute, und ich bin überzeugt davon, daß die größte Herausforderung für sie die Überwindung des Erbes des Sowjetreiches bedeutet. Das könnte möglicherweise erklären, warum sie die Geschichte auf diese Art und Weise betrachten. Das ist ein wenig komisch, denn alle anderen schätzen die Dinge, die 1940 geschehen sind, ganz anders ein. Die Amerikaner zum Beispiel haben uns niemals als rechtmäßigen Teil der Sowjetunion betrachtet. Alle Länder der Erde betrachten uns nicht als neuen Staat. Sie anerkennen viel mehr, daß wir unsere Unabhängigkeit zurückbekommen haben. Wir waren unabhängig, und wir wurden besetzt. Ich sehe wirklich keinen ernsten Grund, warum uns Rußland nicht anerkennen sollte, vielleicht glauben sie, daß eine Anerkennung gewisse Folgen haben könnte. Die einzige Folge, die ich erkennen kann, ist eine Verbesserung unserer Beziehungen. 

Wenden wir uns jetzt der russischen Minderheit in Lettland zu. Derzeit leben in Ihrer Hauptstadt Riga mehr Russen als Letten. Besteht denn da nicht die Gefahr, daß eine russische Regierung, die innerstaatliche Probleme hat, die russischen Minderheiten in den baltischen Staaten benutzt, um Unruhe zu stiften? 

Berzins: Die Russen in Lettland sind dem lettischen Staat gegenüber grundsätzlich loyal. Lassen Sie mich Ihnen zwei Beispiele geben: Vor einiger Zeit hatten wir Schwierigkeiten mit indischen Behörden, denn vier unserer Piloten wurden in Indien verhaftet, weil sie in einen Waffenschmuggel oder dergleichen verwickelt gewesen sein sollen. Sie sagten natürlich, daß sie keine Ahnung hätten. Ein britischer Staatsbürger und vier lettische Russen wurden zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Die Russen boten ihnen an, russische Bürger zu werden. Nachdem das geschehen war, forderte Herr Putin nachdrücklich, daß diese Leute vor seinem Besuch in Indien freigelassen würden. Wir forderten dasselbe, aber die indischen Behörden gingen auf unsere Bitte nicht ein. Das hängt wahrscheinlich mit der Bedeutung von Herrn Putin zusammen. Ich sehe keine ernsthaften Gründe dafür, aber gut, diese vier Leute kamen nach Moskau zurück und ersuchten sofort um die Erlaubnis, nach Lettland zurückzukehren. Die Russen fühlen sich wohl in Lettland, sie wollen hier bleiben und wollen auch Staatsbürger werden. Ältere Leute wollen keine Bürger werden, denn sie sagen sich, wir sind jetzt 50 oder 60 oder 70, warum sollten wir jetzt noch Lettisch lernen. Ein zweites Beispiel: Als unsere Regierung die Sprachgesetze beschloß, wurden russische Zeitungen sehr aktiv und veröffentlichten einige Artikel. Das dauerte ungefähr zwei Wochen lang, aber außer einigen Berufsdemonstranten folgte niemand diesen Aufrufen. Nachdem wir unsere Unabhängigkeit wiedererlangt hatten, war das Wichtigste für uns damals der Rückzug der russischen Armee. Wir hatten Erfolg und sind wie die anderen baltischen Staaten sehr glücklich darüber, denn wir sehen jetzt die Schwierigkeiten beim Rückzug der russischen Armee aus Georgien, Moldawien und anderen Gebieten. Wir fürchten uns nicht vor diesen Russen, denn das sind unsere Russen und wir sollten uns natürlich um sie kümmern. Außerdem glaube ich, daß die Russen in Lettland verstehen, daß sie ein wesentlicher Teil der lettischen Gesellschaft sind, wenn sie auch noch nicht Staatsbürger sind. 

Im vergangenen Monat hat man öfters kritische Anmerkungen über die Lettische Legion und ihre Veteranenaufmärsche gehört. Was war die Lettische Legion, und was ist Ihre Ansicht darüber?

Berzins: Nichts dergleichen ist vorgefallen. Alte Leute, die gezwungen waren, 1941/43 in der Deutschen Wehrmacht zu dienen, versammelten sich, um Blumen an unserem Denkmal niederzulegen. Von lettischen Behörden wurde das weder anerkannt noch unterstützt. Soweit zu unserer Stellungnahme. In unserem Museum der Besatzungszeit gibt es ein Bild, auf dem Letten im Jahre 1941 die Deutsche Wehrmacht mit Blumen willkommen heißen. Sie müssen sich vorstellen, daß die Deutschen, nachdem sie 700Jahre im Baltikum anwesend waren, wie Befreier begrüßt wurden. Jetzt können Sie auch verstehen, was 1940, nachdem die Russen Lettland und die anderen baltischen Staaten besetzt hatten, geschah. Es gab Deportationen, viele Hunderte Leute wurden zu dieser Zeit ermordet, und natürlich wollten die Menschen in Lettland einfach dem Stalinregime entkommen. Gleichzeitig waren sie aber nicht bereit, für die Deutschen zu kämpfen, wurden aber dazu gezwungen. Es gab einige Freiwillige wie in anderen Ländern, aber wir waren Opfer der Geschichte, denn keine der westlichen Demokratien unterstützte uns. Alle drei baltischen Staaten wurden besetzt und in die Sowjetunion eingegliedert. Dann kamen die Deutschen, und die Leute hatten gar keine Möglichkeit der deutschen Besatzung zu entkommen. Wir wurden bedauerlicherweise mehrmals von Russen und von Deutschen besetzt, und dann kamen die Russen zurück. Als die Russen Nazideutschland besiegten, war es ein großer Sieg für alle, aber für die Letten begann eine traurige Besatzungszeit. Das ist es, was man Ausländern so schwer erklären kann. Vor drei Jahren also traf ich einen deutschen Journalisten, dem ich ungefähr eine Stunde lang erklärte, was mit Lettland geschah und nach dieser Stunde bedankte er sich für meine Mühe und fügte hinzu, daß er keinen Artikel schreiben werde, weil wir nicht im Trend lagen. Es tut mir leid, aber die Letten wie auch die Esten und die Litauer waren Opfer der Geschichte.

 

Indulis Berzins, geboren am 4. Dezember 1957 in Modona, Lettland, verheiratet, zwei Kinder. 1981 erfolgreicher Abschluß des Studiums an der Fakultät für Geschichte und Philosophie der Universität der Republik Lettland. Der Politiker der konservativen Partei "Lettischer Weg" ist seit Juli 1999 lettischer Außenminister.

 

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