© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    02/01 05. Januar 2001

 
Meinhard Miegel
Kassandra der Rente
von Michael Wiesberg

Spätestens seit 1993 ist Meinhard Miegel, Leiter des "Instituts für Wirtschaft und Gesellschaft" (IWG) in Bonn, einer breiteren Öffentlichkeit durch seine in Zusammenarbeit mit der Politologin Stefanie Wahl entstandene Studie "Das Ende des Individualismus. Die Kultur des Westens zerstört sich selbst" bekannt. Die zentrale These der beiden Autoren lautet: Die Kultur des Westens zerstört sich selbst, weil ihr mit dem Individualismus eine selbstzerstörerische Ideologie zugrundeliegt. Individualistische Kulturen seien daher nur bedingt lebensfähig. Sie würden durch Menschen anderer Kulturen verdrängt.

Den wenigsten Zeitgenossen dürfte bekannt sein, daß der als scharfer Gesellschaftkritiker in Erscheinung tretende 61jährige Miegel zunächst als Student der Musik an der Friedrich-Liszt-Hochschule in Weimar immatrikuliert war. Erst nach seinem Entschluß, die DDR in Richtung Bundesrepublik zu verlassen, nahm Miegel das Studium der Philosophie, Soziologie und Rechtswissenschaften auf.

Von einer nicht unerheblichen Bedeutung für das sozial- und gesellschaftspolitische Interesse Miegels dürfte dessen Arbeit (1973–75) für den damaligen Generalsekretär der CDU, Kurt Biedenkopf, gewesen sein. Seit 1977 Leiter des IWG, ist er seit 1992 außerplanmäßiger Professor an der Universität Leipzig und Leiter des "Zentrums für internationale Wirtschaftsbeziehungen". Seit 1994 ist Miegel Mitglied der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste. Schließlich war er von 1995 bis 1997 Vorsitzender der Kommission Zukunftsfragen der Freistaaten Bayern und Sachsen.

In letzter Zeit hat sich Miegel als scharfer Kritiker des bestehenden Rentensystems profiliert. Insbesondere vor dem Hintergrund der besorgniserregenden demographischen Entwicklung in Deutschland fordert Miegel eine konsequente Umstellung der umlagefinanzierten Sicherungssysteme auf ein Kapitaldeckungsverfahren. Seiner Auffassung nach ist aufgrund der falschen Organisation der sozialen Sicherung in Deutschland das heutige Sozialsystem kaum noch bezahlbar. Die Folgen dieser Desorganisation werden aus seiner Sicht durch den seit etwa 25 Jahren anhaltenden Geburtenmangel mit jedem Jahr bedrohlichere Ausmaße annehmen. Wenn sich die Deutschen den demographisch bedingten Herausforderungen nicht entschlossen stellten, drohe der Verlust des nach dem Zweiten Weltkrieges erarbeiteten Wohlstandes. Den notwendigen Gestaltungswillen vermißt Miegel sowohl in der Politik als auch bei den Deutschen selbst. Die heutigen Deutschen seien nicht mehr die Deutschen des 19. Jahrhunderts oder der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts. Diese Deutschen seien Geschichte geworden. Die reich gewordenen Deutschen wollten nichts mehr riskieren. Aus Miegels Sicht ist diese Haltung ein Indiz für Niedergang. Bleibe es bei dieser Passivität, könnte der Wohlstand der Deutschen schneller zerbrechen, als sich die meisten das vorstellen können.


 
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