© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    02/01 05. Januar 2001

 
Das Elend des Trittbrettfahrers
Hans-Ulrich Treichel erweist sich in seinem Roman "Tristanakkord" als Chronist deutscher Seelenzustände
Doris Neujahr

D er Titel, "Tristanakkord", klingt wagnerianisch-düster, und der Schutzumschlag ist nachtblau. Doch keine Angst, es handelt sich um Ironie! In Hans-Ulrich Treichels Roman geht es nicht um Todessehnsüchte, und auch der gute, alte Künstler-Bürger-Konflikt kommt mit einem Augenzwinkern daher. Denn in der pluralistischen Gesellschaft ist die Kunst als des Lebens sublimste Form, auf die jeder ein Anrecht hat, längst akzeptiert. Dank des mißverstandenen Diktums von Joseph Beuys, jeder Mensch sei ein Künstler, kann auch der rabiateste Graffiti-Schmierer sich noch zum schöpferischen Menschen, zum Sinn- und Selbstsucher, erklären und auf die Freiheit der Kunst pochen! Dieser Teufelskreis aus inflationiertem Kunstanspruch und sozialer Unreife ist ein zentrales Thema in Hans-Ulrich Treichels aktueller Prosaarbeit.

Der biedere Name des Ich-Erzählers, Georg Zimmer, ist Programm: Zimmer ist ein Stubenhocker, den es aus dem Emsland nach Berlin-Kreuzberg verschlagen hat, ein arbeitsloser Germanist, der von der Sozialhilfe lebt und lustlos über "Das Vergessen in der Literatur" forscht: Zu skeptisch, um sich einfach in entfremdete Arbeit stürzen, zu schwach, um als Überflieger seine Distanz zur Erwerbsgesellschaft zu rechtfertigen. Ein Tagträumer, der sich beim Anhören von Beatles-Platten eine Musikkarriere ausmalte, doch beim Erlernen eines Instruments scheiterte. Er hat in der "Edition Ausweg" immerhin einen Gedichtband veröffentlicht, wohl wissend, daß die "Edition Ausweg" in Wahrheit "eine Sackgasse" ist. Sein Lebensgefühl findet er im Tristanakkord wieder: "Sehnsüchtig-traurig, irgendwie unerlöst".

Ein Glück, daß der weltberühmte Komponist Bergmann gerade einen Korrekturleser für seine Memoiren benötigt. Bergmann ist eine dröhnende Künstlernatur, erfolgreich, raumgreifend, luxusverwöhnt, natürlich auch eitel, mit einem immensen Werkverzeichnis und Bankkonto. In seiner Person scheint der Gegensatz zwischen nüchtern-akkurater Bürgerlichkeit und himmelstürmendem Künstlertum aufgehoben: Ein echter "BoBo", ein "Bourgeois Bohemian", das Wunschbild unserer Tage. Von Georg verlangt er – geläuterter Nachfahre des zur Hölle gefahrenen Adrian Leverkühn – eine Hymne von vierzehn Zeilen, beheimatet zwischen "New York und Nürtingen", "zudem solle sie die Schöpfung preisen, von der Schönheit der Natur, von der Harmonie des Sternenhimmels, dem Glück der Liebe usw. handeln, dürfe ruhig überschwenglich, aber auf keinen Fall kitschig sein und müsse mit einem Wort enden, in dem der Vokal a vorkomme".

Georg folgt ihm in seine feudalen Quartiere nach Schottland, New York und Sizilien, stolz, beflissen und immer voller Angst vor der Blamage. Jeder Schritt in die große, weite Welt wächst sich für das norddeutsche Provinzei zur Mutprobe aus, harmlose Mißverständnisse werden zu existentiellen Niederlagen. Bergmann, so hofft er, werde ihm wenigstens zu einer "Trittbrettunsterblichkeit" verhelfen, und irgendwann ist er überzeugt, daß er ihn tatsächlich "aufgenommen hatte in seine Welt, in die Welt der Kunst und des Ruhms". Doch dann wird der Vielgerühmte selber zur komischen Figur, als er in einer amerikanischen Late-Night-Show seine kostbaren Sendeminuten mit einem Unterwasser-Mannequin teilen muß, das gerade einen neuen Tauchrekord aufstellt: Eine der vielen, harmlosen Idiotien des Medienbetriebs, die Bergmann aber als persönliche Schmach empfindet und, in Ermangelung wirklicher Souveränität, den Schwächeren entgelten läßt, indem er sich vor handverlesenem Publikum über Georgs Kleidung – Kreppsohlenschuhe und Strickkrawatte – lustig macht. In Wahrheit stehen er und Georg sich näher, als beide zu denken wagen.

Zum Schluß spielt Bergmann den Tristanakkord, "sehnsüchtig-traurig, irgendwie unerlöst". Auch dem Vollendeten ist es nicht vergönnt, durch die Kunst zum wirklichen Leben vorzustoßen. "Die Meisterhaltung unseres Stils ist Lüge und Narrentum, unser Ruhm und Ehrenstand eine Posse", sinnierte einst Gustav von Aschenbach, bevor er in Venedig einen viscontireifen Tod starb. Seine Einsicht, damals von unerbittlicher Konsequenz, ist massenhaft zur Konvention geworden und kein Grund mehr zu sterben. Ein inflationiertes Künstlertum ist eben auch nicht mehr das, was es einmal war!

Sein Talent zum traurig-ironischen, mitunter bös’-sarkastischen Understatement, das schon seine Novelle "Der Verlorene" (1998) auszeichnete, hat Treichel hier zur Perfektion gebracht. Und ganz nebenbei hat er in Georg die Kehrseite des angestrengt weltläufigen, allzeit medienkompatiblen, penetrant zerknirschten, postnationalen Gegenwarts-Deutschen gezeichnet: Einen Trittbrettfahrer, der ein Bild des Jammers darstellt! Treichel hat mit diesem Buch unterstrichen, daß er der subtilste Chronist deutscher Seelenzustände ist, über den die Literatur zur Zeit verfügt.

 

Hans-Ulrich Treichel: Tristanakkord. Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2000, 237 Seiten, 38 Mark


 
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