© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    02/01 05. Januar 2001

 
Krieg der Kulturen
von Hans-Helmuth Knütter

Wir leben in einer seltsa men Zeit,in einem seltsamen Land. Man hat von der Zeit der "neuen Unübersichtlichkeit" und Unsicherheit gesprochen. Bisher gültige Werte und zugehörige gesellschaftliche und politische Strukturen wandeln sich, was gestern galt, was gestern ein Wert war, ist heute plötzlich ein Unwert. Familie, Ehe, Recht, Rechtsstaat, Gerechtigkeitsempfinden, Staatsvertrauen, Meinungsfreiheit, Demokratie, Parteien, Sicherheit der Renten: alles ist im Fluß, alles wird unsicher – und selbstverständlich auch die Nation als Gegenstand unseres Erinnerns und Vergegenwärtigens. Dieser Wandel von Werten und zugehörigen gesellschaftlichen und politischen Strukturen ist nicht neu. Er verläuft seit vielen Jahrzehnten, aber besonders rasant und für uns alle spürbar seit 1989/90. Seit dem Ende des Ost-West-Konfliktes, der immerhin für viele Jahrzehnte unser Denken und Fühlen in einer Weise beeinflußt hat, die manchem vielleicht gar nicht bewußt geworden ist, sind mehr Veränderungen eingetreten als in den Jahrzehnten zuvor.

Wie sich die Zustände gewandelt haben, zeigt ein Beispiel: Im Jahre 1987 ist die CDU/CSU mit einem Plakat in den Wahlkampf gezogen, auf dem ein gereckter Daumen zu sehen war mit der Unterschrift "Weiter so, Deutschland!" Wenn sie oder eine andere Partei das heute täte, wäre ein Höllengelächter die Reaktion. Weiter so in die Arbeitslosigkeit, in die soziale Verelendung, in die öffentliche Verschuldung, in die wirtschaftliche Pleite, in die Kriminalität, in die Jugendverwahrlosung, in die linke Gewalt, in die Salonfähigkeit der PDS und des sonstigen Linksextremismus, in das Justizversagen, in die Bedrohung der Meinungsfreiheit, in die Desinformation durch die Medien und das Fernsehen? "Weiter so, Deutschland"? Lieber nicht!

Darin zeigt sich ein Wandel von Wertvorstellungen, von Ansichten und Meinungen, der ins Bewußtsein gehoben werden muß und uns sehr zu denken geben sollte.

Umkehr und Erneuerung sind nötig. Aber wohin? Alle großen Visionen einer neuen, besseren Ordnung sind verfallen. Den Versuch einer Ortsbestimmung der Gegenwart hat der amerikanische Politikwisssenschaftler und Regierungsberater Francis Fukuyama mit seinem Buch "Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir?" (Deutsche Ausgabe München 1992) versucht. Die sich transzendent legitimierenden Monarchien von Gottes Gnaden sind 1918 an ihr Ende gekommen. Die völkisch-nationalistischen Systeme, die von der rassischen Homogenität und in der Volksgemeinschaft Erlösung erwarteten, endeten 1943/45. Die sozialistisch/kommunistischen Systeme, die in der klassenlosen Gesellschaft die innerweltliche Erlösung der Menschheit erwarteten, endeten 1989/1991. Übrig bleibt als "Sieger der Geschichte" die liberale westliche Demokratie mit ihren freiheitlichen und marktwirtschaftlichen Strukturen. "Ende der Geschichte" heißt, daß es keinen weiteren Fortschritt in der Entwicklung grundlegender Prinzipien und Institutionen mehr geben könne, da alle wirklich großen Fragen endgültig geklärt seien. Die weltanschaulichen Auseinandersetzungen, die Europa und die Welt jahrhundertelang geplagt haben, seien jetzt endgültig an ein Ende gekommen.

Fukuyamas Ideen haben sich als eine intellektuelle Eintagsfliege erwiesen. Weltweite Migration mit ihren bedrohlichen Folgen, politischer und religiöser Fundamentalismus, insbesondere der islamische, widerlegen Fukuyamas Erwartungen. Wahr bleibt allerdings: Es gibt keine großen, weiterhelfenden, wegweisenden Visionen mehr, die den Zeitgenossen den Sinn des Lebens deuten. Während es noch Anfang der dreißiger Jahre säkulare Erlösungserwartungen in der Volksgemeinschaft oder in der klassenlosen Gesellschaft gab, existieren heute allenfalls sehr eng begrenzte Zukunftserwartungen.

Öko-Sozialisten erhoffen eine Rettung der bedrohten Menschheit durch Zügelung der Ausbeutung der Erdschätze. Manche Politiker werden von der Erwartung eines vereinten Europas beflügelt, das die Enge der bisherigen Nationalstaaten überwindet und neue politische, wirtschaftliche und kulturelle Möglichkeiten eröffnet. Die moderne Mediengesellschaft schließlich führt zu neuen gesellschaftlichen Strukturen, deren Konturen noch nicht absehbar sind. Hoffnungen und Befürchtungen halten sich bei der Erwartung der vierten industriellen Revolution die Waage. Ob diese "Visionen" Lebenssinn zu stiften vermögen, ist zweifelhaft. Wie aber steht es mit der sinnstiftenden Funktion der Nation?

Das Verhältnis der Deutschen zur Nation ist schwierig. Vom "Elend des deutschen Nationalbewußtseins", von der "verspäteten Nation" hat man gesprochen. Die Deutschen seien nationsvergessen, hieß es schon im 18. und 19. Jahrhundert. Sie katzbuckeln vor dem Ausland, sie schätzen den englischen Lebensstil, französische Kultur, Italien war das Land der Sehnsucht der Gebildeten. Aber sind die Deutschen tatsächlich so nationalvergessen? Weltweit beobachten wir eine Renaissance des Nationalen. Geradezu explosiv seit 1989 in Osteuropa und im südostasiatischen Teil der ehemaligen Sowjetunion. Nationale Revolutionen haben ab 1947, beginnend mit Indien, die früheren Kolonien zu selbständigen Nationalstaaten gemacht. Die widerwärtigen Begleitumstände dieser Nationsbildungen, die "ethnischen Säuberungen" erinnern an das Wort von Franz Grillparzer, die Entwicklung der Menschheit verlaufe von der Humanität über die Nationalität zur Bestialität. Aber die Heftigkeit nationaler Leidenschaften bis in unsere Tage zeigt, daß die Aussage, die Nation habe heute keine Bedeutung mehr, das illusionäre Wunschdenken westlicher Intellektueller ist. Auch in Westeuropa gibt es derartige Erscheinungen, wenngleich sie weniger explosiv auftreten als in Osteuropa: Belgien vegetiert dem Zerfall nahe dahin infolge der ethnischen Auseinandersetzungen zwischen Flamen und Wallonen. In Spanien und Frankreich gibt es separatistische Bestrebungen, in Italien erleben wir den nur scheinbar grotesken Versuch der "Lega Nord", Norditalien als "Padanien" in die staatliche Selbständigkeit zu führen. In Kanada konnten die Franco-Kanadier vor einigen Jahren gerade noch knapp an der Seperation durch eine Volksabstimmung gehindert werden.

Nur in Deutschland, dem Lande des angeblich unterentwickelten Nationalbewußtseins, ist die bereits eingetretene und verfestigte Spaltung rückgängig gemacht worden. "Wir sind ein Volk" –angesichts dieses Bekenntnisses standen alle antinationalen Leftisten blamiert und mißmutig da. Obwohl mehr als eine Billion Mark von West nach Ost transferiert wurde, gibt es nicht einmal ansatzweise eine "Lega West", die eine Solidarität mit den östlichen Bundesländern bekämpft. Das ist positiv und spricht für ein nationales Zusammengehörigkeitsbewußtsein im guten Sinne. Dennoch ist das Selbstbewußtsein der Deutschen nicht in Ordnung. Es wird von interessierter Seite gestört. Die Regierenden der heutigen Bundesrepublik Deutschland fürchten nichts mehr als die "Störung des deutschen Ansehens im Ausland". Dieses "Ansehen" wird ihrer Meinung nach nicht durch linke Krawalle und kriminelle Akte gestört, sondern durch Regungen eines deutschen Selbstbewußtseins. Deutschland ist mit über 80 Millionen Einwohnern und einer relativ starken Wirtschaft ein politisches Schwergewicht, das bei Nachbarn Furcht und Neid erregt. Deshalb haben einige unserer sogenannten "Freunde und Verbündeten" 1989/90 nach Kräften die Wiedervereinigung zu ver- oder wenigstens zu behindern versucht. Zu welcher Hetze sich ausländische Journalisten versteigen können, zeigt sich an einem amerikanischen Schriftsteller namens Tom Clancy, der im Sommer 1996 rückblickend die "Chaoslage" in Hannover von 1995 als "rechtsextremen Aufstand" gedeutet hat. Wenn es keine rechtsextremen Ereignisse gibt, werden sie konstruiert.

Jüngste Beispiele – der Bombenanschlag Düsseldorf, der angebliche Kindsmord in Sebnitz – belegen dies aufs Übelste. Die verbrecherische, volksverhetzende Schlußfolgerung (wer wollte hier von "Logik" sprechen?) lautet: Wenn es die Rechten nicht waren, so könnten sie es doch gewesen sein!

Der Versuch des bundesrepublikanischen Establishment, durch willfähriges, vorauseilendes Entgegenkommen den Deutschfeinden den Wind aus den Segeln zu nehmen, bleibt erfolglos. Viele der heutigen fragwürdigen politischen Handlungen des Establishment erklären sich aus der wirren undurchschaubaren Situation. Wir erleben einen Verfall bisheriger Strukturen und Werte, ohne daß irgend jemand weiß, wohin die Entwicklung geht. Die Jahre 1989/90 waren eine Zeit des Aufbruchs. Aber wie es in Deutschland so ist – einem kurzen "Auf" folgt ein nachhaltiger Bruch.

Der Antitotalitarismus, der die sprichwörtliche "Gemeinsamkeit der Demokraten" in der Frühphase der BRD begründete, ist zugunsten eines einseitigen "Antifaschismus" aufgegeben. Rot-Grün paßt sich damit einmal mehr der DDR an. Die Aufnahme der PDS als salonfähiger Koalitionspartner gehört dazu. Der antikommunistische Gehalt des Totalitarismus wird aufgegeben.

Demgegenüber zeugt der Kampf gegen die angebliche Gefahr von rechts von der Mentalität des "Haltet den Dieb". Die Rechte ist von einer Machtbeteiligung weit entfernt. Die Honecker-Gefolgschaft, 1989/90 spektakulär von der staatlichen Macht vertrieben, hat hingegen eine reelle Chance, Einfluß auf die Bundespolitik zu gewinnen, wovon Honecker mit seiner maroden DKP vor 1989 nur träumen konnte. Die Gefahr des Linksextremismus ist seit 1989 systematisch und unter schuldhafter Mitwirkung der etablierten Parteien verdrängt und bagatellisiert worden. Vor 1989 hat es einen kämpferischen Antikommunismus gegeben. Die Gefahr des Linksextremismus war erkannt. Trotz der Ost-West-Annäherung war die Aggressivität des "sozialistischen Lagers" ungebrochen. Im Jahre 1979 überfiel die friedliebende Sowjetunion Afghanistan, in den achtziger Jahren ließ sie ihren kubanischen Satelliten einen Stellvertreterkrieg in Angola führen. Die DKP baute eine illegale "Militärorganisation" (MO) auf, von der unsere tüchtigen westlichen Sicherheitsbehörden wenig bis gar nichts wußten. Das Ziel waren Sabotageaktionen in der Bundesrepublik. Das Ministerium für Staatssicherheit hatte die westdeutschen politischen Institutionen so weitgehend unterwandert und durchsetzt, daß ein Offizier dieses Ministeriums den arroganten aber nicht völlig wirklichkeitsfremden Ausspruch tun konnte, den nächsten Bundeskanzler werde die Staatssicherheit bestimmen.

So ist es nicht gekommen, und 1980 erfolgte eine scheinbare Drehung um 180 Grad. Nicht nur der Kommunismus, sondern auch der gesamte Sozialismus war in moralischer, politischer, finanzieller und organisatorischer Hinsicht am Ende. Eine weitere Drehung erfolgte 1992. Unter Ausnutzung des Antifaschismus faßte die extreme Linke wieder Tritt und kam zu erneuertem Einfluß. Man kam allerdings nicht wieder dort an, wo man vor 1989 gestanden hatte, sondern konsolidierte sich auf niederem Niveau. Der Linksextremismus konnte mit dem "Kampf gegen Rechts" neue Bedeutung, Einfluß, Freunde und Förderer gewinnen.

Aber in der Öffentlichkeit war und blieb das Bewußtsein von der Gefährlichkeit des Linksextremismus mit dem Ende der militärischen Bedrohung durch das Potential des Ostblocks unterentwickelt. Die Illusion der Jahre 1989 bis 1992, Kommunismus und Linksextremismus seien ein für allemal am Ende, blieb und wirkte bis heute fort. Der PDS-Vorsitzende Lothar Bisky hat im Januar 1995 auf dem damaligen Parteitag einen bezeichnenden Ausspruch getan: Die Bonner Republik sei vergangen, die Berliner Republik dämmere herauf, sie werde erheblich anders aussehen, als die Vertreter des "ancien regime" sich vorstellen können. Und die PDS erhebt den Anspruch, hier maßgeblich gestaltend mitwirken zu können. Es ist eine Schwäche der Rechten, auf den Staat und die Staatsmacht selbst dann zu vertrauen, wenn diese das Vertrauen nicht verdienen. Die Linke betrachtet den Staat hingegen grundsätzlich als ein Unterdrückungsinstrument der herrschenden Klasse, das abgelehnt und bekämpft werden muß. Allenfalls als Instrument der Umverteilung gilt der Staat als nützlich. Nationale und Konservative haben es schwerer, wenn sie das Establishment kritisieren, denn sie nehmen eine prinzipiell positive Einstellung zu Staat und Gesellschaft ein. Deshalb kommt es in der heutigen Zeit zu Selbstvergewisserung darauf an, zu definieren, was man ablehnt und bekämpft. Wir wollen keinen Krieg, keinen Bürgerkrieg. Wir kämpfen gegen die Einschränkung des Rechtsstaates, gegen die Beeinträchtigung der Rechte des deutschen Volkes.

Hier höre ich den Einwand. Das ist doch rein negativ, wo bleibt denn das Positive? Dem ist entgegenzuhalten, daß die Erkenntnisse des Übels und seine Bekämpfung nichts Negatives, sondern bereits das Positive sind. Deshalb ist es gut zu sagen, was man nicht will. In unserer wirren, widersprüchlichen Zeit ist das durchaus konstruktiv und kein Anlaß zur Rechtfertigung.

Denken wir daran, daß die Arbeiterbewegung durch die sprichwörtlichen Arbeitergroschen, also kleinste Beträge, groß geworden ist. Nötig ist, die Anwandlungen zur Feigheit, zur Resignation zu überwinden und Rückschläge zu ertragen. Nur keine Berührungsängste! Wir leben in einer wendereichen Zeit, und die nächste Wende kommt bestimmt. Die Dinge und die Verhältnisse bleiben nicht, wie sie sind. In den Strom des Geschehens geworfen, muß man rudern, wenn man nicht mitgerissen werden will.

Wir erleben einen rasanten Abbau von Freiheitsrechten durch die Zunahme von Bevormundung und Bespitzelung. Da aber derzeit Brot und Spiele noch gewährleistet sind, wird dies mit abstoßender Passivität hingenommen.

Samuel P. Huntington hat vor Jahren den Zusammenprall der Kulturen, also einen ethnischen Bürgerkrieg, prognostiziert. Es versteht sich, daß alle Palmströms nach dem Motto "weil nicht sein kann, was nicht sein darf", diese Gefahr nicht sehen wollen. Handelt es sich um Pessimismus? Nein, um Realismus! Stellen wir uns auf ein denkbares, mögliches, vielleicht sogar wahrscheinliches, aber letztlich nicht sicheres Ereignis ein.

Vielleicht verliert das vergreiste, hysterisierte deutsche Volk diesen Kampf auf deutschem Boden. Aber nicht Resignation ist gefordert, sondern Kampfbereitschaft im Sinne des Kirchenvaters Augustinus: "Solange wir leben, kämpfen wir. Solange wir kämpfen, ist es ein Zeichen, daß wir nicht unterlegen sind, und der gute Geist in uns wohnt. Und wenn dich der Tod nicht als Sieger antrifft, soll er die als Kämpfer finden."

 

Prof. Dr. Hans-Helmuth Knütter lehrte Politikwissenschaft an der Universität Bonn.


 
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