© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    03/01 12. Januar 2001

 
Sehnsucht nach dem Lagerfeuer
Der Wandervogel und die Bartträger – Wird das Jahrhundert der Jugend eine Fortsetzung finden?
Günter Zehm

Niemand hat in den vielen Rückblicken auf das vergangene Jahrhundert darauf aufmerksam gemacht, daß dieses zwanzigste Jahrhundert, wenn überhaupt etwas, das "Jahrhundert der Jugend" gewesen ist. Das verwundert, denn schon 1901 ging es mit der Gründung des Wandervogels los. Die Jungen, die sich dort sammelten, wollten unüberhörbar Schluß machen mit der angeblich entfremdeten, künstlichen, hoffnungslos verzopften "Erwachsenenwelt", und dieses Pathos hat sich das ganze Jahrhundert hindurch fortgesetzt, mit sich ständig steigernder Durchschlagskraft.

Faktisch jede Generation wollte von da an immer wieder bei Null anfangen, wollte die "Väter" ein für allemal außer Kurs setzen. Das nahm, wie bekannt, rabiate Formen an. Die großen totalitären Bewegungen in der Politik wurden wesentlich von Jungen auf die Beine gebracht. Hitler war 1933 bei Machtantritt mit seinen zweiundvierzig Jahren fast schon ein Methusalem: Alle seine Paladine waren viel jünger, und die Jugendformationen der Bewegung bestimmten deren Erscheinungsbild und ihre Rhetorik.

Nach dem großen Orlog gab es "Flower Power", "Babyboomer", "Studentenrevolte" – die Parolen und die Kampfmethoden wechselten, aber der Impetus blieb stets der gleiche. Die Erwachsenen wußten sich schließlich nur noch zu retten, indem sie sich selber auf jung schminkten, vor angestrengtem Jungsein bald kaum noch geradeauslaufen konnten. Zuletzt war faktisch alles "jung", auf "Jugend" abgestellt: die Güterproduktion, die Freizeitangebote, der Medienbetrieb, selbstverständlich die Werbung, die sowieso nur noch die "Unterneunundvierzigjährigen" ins Auge faßte.

Wird sich das im einundzwanzigsten Jahrhundert fortsetzen, vielleicht sogar noch verstärken? Statistisch sieht alles danach aus, denn die Menschheit wird immer jünger. Die Überalterung der westlichen Gesellschaften, in denen es immer weniger Nachwuchs gibt, täuscht über das globale Gesamtbild hinweg. Schon eine kurze Reise auf den Balkan oder in den Maghreb rückt die Proportionen zurecht, denn dort wimmelt es von Kindern über Kindern. Weit über die Hälfte der Bevölkerung ist dort unter zwanzig, und kein Ende dieser Lage ist abzusehen.

Der Gegentrend zeigt sich im Geistigen. Der schieren Masse der Jungen steht, schon jetzt deutlich erkennbar, ein Nichts an anspruchsvoller Jugendkultur gegenüber. Weit und breit kein neuer Wandervogel, nicht einmal neue Flower Power, kein "Steppenwolf", kein "Es zittern die morschen Knochen".

In den islamischen Ländern, die vor Jugend überquellen, herrscht eisern das Gesetz der bärtigen Alten, der Mullahs und Ajatollas, die die schriftliche Tradition verwalten, die Gebete und Kriege organisieren und denen sich die Jugend schier willenlos unterwirft. Nicht sehr anders steht es dem Anschein nach in Indien und China, selbst im hochtechnisierten Japan, wo einst die "Studentenrevolte" ihren Anfang nahm und wo heute die Eleven brav in die Schulen einrücken, um die etablierten Lehren entgegenzunehmen.

Ähnlich verhält es sich im Grunde im Westen. Hier ist zwar die Tradition weitgehend erloschen und hier und da sogar ruchlos verfemt und verhöhnt, aber die aktuelle, mit einigen menschenrechtlichen und demokratischen Phrasen übertünchte Leere wird von (auf jung getrimmten) Alten verwaltet, die allein schon durch ihre restriktive Politik des (keine) Kinderkriegens dafür sorgen, daß Jugend kaum je wieder einmal etwas zu sagen haben dürfte. Den Rest besorgt eine in allen Medien tagtäglich heruntergedudelte Staats- und Gesellschaftsideologie, die eine Unüberholbarkeit der gegenwärtigen Zustände vorspiegelt und spezifisches Jugenddenken unter schlimmsten Ideologieverdacht stellt.

Was waren die Ingredienzen solchen spezifischen Jugenddenkens, wie es sich vor hundert Jahren im Wandervogel, etwa in den Manifesten von Hermann Hoffmann-Fölkersamb oder Karl Fischer, zum ersten Mal zu Wort meldete? Ganz oben stand der Protest gegen das Mechanische, Eingebildete und "Verlogene" des bürgerlichen bzw. proletarischen Lebens.

Man wollte die Tradition nicht zerstören, sondern gerade wiederentdecken, ihre (angeblich verschüttete) "Wahrheit" freilegen, ihre "Originalität", ihre "Echtheit". Jungsein, so hieß es, bedeutete "Verschwistert-sein mit dem Urstrom des Lebens" (K. Fischer).

Hinzu kam der Lobpreis der "echten Gemeinschaft", wie sie sich bei Sonnenwendfeiern, Fähnleinumzügen und Lagerfeuern entfaltete. Derlei Gemeinschaft bedurfte keiner institutionellen Vorkehrungen und Regeln, sie stellte sich "spontan" her; spontan kristallisierten sich die Führerfiguren heraus, denen man ebenso spontan Gefolgschaft leistete. Der Wandervogel wurde zum "Bund", die Jugend zur "Bündischen Jugend".

In Erinnerung an die anschließenden Vorkommnisse, an totalitäre Mißbräuche und basisdemokratische, graswurzelige 68er-Exzesse, fällt es den Alten natürlich leicht, solches Jugenddenken zu horrifizieren und vor den Folgen zu warnen. So verzichten die gegenwärtig Jungen lieber auf jugendspezifisches Denken und geben sich statt dessen konvulsivisch-besinnungslosen Massen-Events hin, wie sie die Musikindustrie zur Verfügung stellt. Man tobt die Energien aus, statt sie zu sublimieren.

Es ist dies eine recht reduzierte Form von Jungsein. Wenn es anhält, wird man beim besten Willen nicht vom einundzwanzigsten Jahrhundert als einem weiteren Jahrhundert der Jugend sprechen können, auch wenn es in der Dritten Welt noch so viele Kinder gibt. Die Bartträger behalten die Zügel in der Hand.

Ob das ein Segen ist, darüber darf man sich streiten. Sicher, frühere Jahrhunderte vor dem zwanzigsten hielten die Jugend meistens streng in Zucht – und zogen dennoch oft herrliche kulturelle Blüten herauf. Diese Zeiten waren aber wohl im Ganzen noch mit dem "Urstrom des Lebens" verschwistert.


 
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