© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    03/01 12. Januar 2001

 
CD: Deutschrock
Weltschmerzlos
Holger Stürenburg

Viele Gabentische zierte die von der Hamburger Plattenfirma WEA üppig ausgestaltete Best-of-Kollektion von Marius Müller-Westernhagen, dessen 29 erfolgreichste Songs auf einem Doppelalbum zusammengefaßt sind, garniert mit zwei ganz neuen Balladen und der Neueinspielung eines alten Liedes. Tatsächlich sind alle Hits von MMW – der sich seit 1987 schlicht "Westernhagen" nennt, den Marius und den Müller beiseite legte – auf "So weit ..." vorhanden. Nur, ob zum Mitgrölen animierende Rockhymnen wie "Sexy", "Krieg", "Fertig" oder "Es geht mir gut" tatsächlich die besten Songs des Schröder-Duzfreundes sind, steht in den Sternen.

Westernhagens Karriere begann 1974 in der Hamburger Kleinkunstszene und ist in vier völlig unterschiedliche Phasen aufgeteilt. Bis zu seinem Durchbruch mit dem zynischen Rocker "Mit Pfefferminz bin ich Dein Prinz" hielt er sich zunächst textlich und musikalisch im Liedermachermilieu auf, sang hauptsächlich Balladen und baute Jazzrockelemente in seine Kompositionen ein. "Taximann" und das schön-traurige "Wir waren noch Kinder" befinden sich aus dieser Zeit auf der Best-of-Koppelung. 1978/79 begannen Westernhagens Jahre als schneller, frecher und textlich oft äußerst politisch unkorrekter Rock’n’ Roller. Mit Songs über Huren, Kleinkriminelle, Denunzianten und "Dicke" (fehlt auf der CD!) avancierte er zum Teeniestar wider Willen. "Pfefferminz", "Johnny W." und "Ladykiller" repräsentieren diesen Lebensabschnitt Westernhagens auf "So weit ...".

Kaum vorhanden ist auf "So weit ..." seine künstlerisch innovativste Phase als depressiver, introvertierter Weltschmerz-Synthirocker, die 1982 begann und 1986 (kommerziell gefloppt, weil zu anspruchsvoll) endete. Damals hatte er nicht nur grandiose Balladen wie "Geiler is schon" oder "Laß uns leben" (auch auf "So weit ..." zu finden!) geschrieben und gesungen, sondern auch bitterböse Texte wie "Ich hab‘ keine Lust mehr im Regen zu stehen", "Spring doch schon", "So viele Leute", "Journalisten", "Take four, because your Birne is weich" oder "Lausige Zeiten"; sarkastische Lieder, die dem nach "Best of Westernhagen" suchenden Spätfan jedoch nicht gegönnt werden. Schade.

Danach wurde Westernhagen zum stadienfüllenden Megastar, textlich jedoch zunehmend banaler; auch musikalisch fiel ihm nicht mehr viel ein. Er blieb entweder bei durchgehend gleich klingenden Balladen ("Wieder hier", "Weil ich Dich liebe", "Ganz und gar") oder beim ewig selben Bluesrockschema ("Sexy", "Fertig", "Krieg") und verzichtete fast völlig auf gesellschaftskritische Aussagen in seinen Songs. Trotz allem untermalten diese Hits die ansonsten Deutschrock-armen 1990er Jahre und ließen vergessen, daß sich Westernhagen noch 1984 in Interviews als "Anarchist" offenbarte.

Diese letzte – und vor allem kommerziell erfolgreichste – Phase des inzwischen in London lebenden Westernhagen macht den Hauptteil der insgesamt 29 Lieder auf dieser Doppel-CD aus. Oft tauchten in den neueren Liedern Gott, der Teufel, religiöse Gedanken auf – in "Krieg" wird sogar der gesamte Dekalog ins Bluesgewand verpackt. Ansonsten geht es in den altbekannten MMW-Songs meist um Frauen, Liebe und Sex.

Trotz der Defizite dieser Best-of-Doppel-CD (die auch als Einzel-CD mit nur 18 Stücken erhältlich ist!) sollten Freunde klassischen Deutschrocks durchaus zugreifen, auch solche, die bereits das eine oder andere der bislang erschienenen fast 20 Alben von MMW ihr eigen nennen. Denn die beiden neuen Stücke – "Du bist nicht allein", bläserbetonter, wiegender Soulrock, und die zerbrechliche Ballade "Rosanna" – sollten in der Sammlung nicht fehlen. Und die Neueinspielung von "Nimm mich mit" kommt im "Unplugged"-Gewand als ungeahntes Folkrockstück daher!


 
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