© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    03/01 12. Januar 2001

 
Die Mitschuld Stalins ist eindeutig nachzuweisen
Zweiter Weltkrieg: Zum Forschungsstand von "Unternehmen Barbarossa" / Eine Erwiderung auf Dag Krienen
Walter Post

Dag Krienen nimmt die Rezension eines neuen Buches von Viktor Suworow zum Anlaß, zur Kontroverse über die Ursprünge des deutsch-sowjetischen Krieges Stellung zu nehmen (JF 51/00). Krienen schreibt, daß wenn es den Vertretern der Präventivkriegsthese gelänge, den "Deutungskampf um Barbarossa" für sich zu entscheiden, dies zweifellos weitreichende Folgen für das deutsche und das europäische Geschichtsbild hätte. Der deutsche Angriff auf die Sowjetunion, der "brutalste und blutigste aller Hitlerschen Kriege", hätte dann die kommunistische Weltrevolution verhindert und wäre damit "die eigentliche historische Basis des freien Europa". Aber die These, "daß Stalins Sowjetunion sich im Sommer 1941 auf eine Offensive in größtem Maßstab in Richtung Westen vorbereitete", sei, so Krienen, "weder von Suworow bewiesen noch von anderen widerlegt". Die Frage, "ob Hitler tatsächlich 1941 die Weltrevolution erstickte und das Rote Weltimperium verhinderte", sei daher nichts als Spekulation.

Krienen hat zweifellos recht, wenn er Suworow vorwirft, sich unnötig weit auf das Gebiet der Spekulation zu begeben; er unterschätzt aber, was die Forschung mittlerweile zur Vorgeschichte des deutsch-sowjetischen Krieges herausgefunden hat. Auch wenn in bezug auf den sowjetischen Entscheidungsprozeß noch deutliche Lücken bestehen, so ergibt sich doch ein verhältnismäßig klares Bild.

Im Mittelpunkt der Diskussion steht der sogenannte "Schukow-Plan"; es handelt sich dabei um einen Operationsplan für einen Offensivkrieg gegen Deutschland, der vom damaligen Chef des sowjetischen Generalstabes, Armeegeneral (später Marschall) Schukow, Mitte Mai 1941 Stalin vorgelegt wurde.

Die Gegner der Präventivkriegsthese behaupten nun, dieser Plan sei nur eine private Studie Schukows gewesen, die kurzfristig aufgrund der deutschen Bedrohung entstanden sei; Stalin habe diesen Entwurf abgelehnt, und es handele sich somit keineswegs um den gültigen sowjetischen Operationsplan.

Die feststellbaren Tatsachen ergeben aber ein ganz anderes Bild. Der "Schukow-Plan" war tatsächlich das Ergebnis einer langfristigen Planungsarbeit und nicht das einer kurzfristigen privaten Initiative. Die zentrale operative Idee des "Schukow-Plans", ein Vorstoß aus der Westukraine durch Südpolen nach Schlesien sowie ein gleichzeitiger Zangenangriff aus der Westukraine und aus Westweißrußland zur Einschließung starker deutscher Kräfte im Raum Lublin – Warschau, geht auf einen älteren Plan vom 18. September 1940 zurück. Dieser Operationsentwurf war vom damaligen Generalstabschef, Armeegeneral Merezkow, und dem Chef der Operationsabteilung, General Wassilweski, ausgearbeitet und von Stalin Anfang Oktober 1940 gebilligt worden.

In diesem älteren Dokument hatte es geheißen (und dies ist für die folgenden Darlegungen von großer Bedeutung): "Der Stoß unserer Kräfte in Richtung Krakau, Breslau gewinnt, indem er Deutschland von den Balkanstaaten (und damit den Öl- und Getreidezufuhren, W.P.) abschneidet, außerordentliche politische Bedeutung."

Schukow und Wassilewski erweiterten diese Grundidee im Mai 1941 um einen anschließenden Vorstoß aus dem Raum Krakau – Kattowitz in nördlicher Richtung zur Ostsee, um möglichst viele deutsche Truppen in Polen und Ostpreußen abzuschneiden und zu vernichten. Dank der Vergrößerung der Roten Armee konnten wesentlich stärkere Kräfte eingeplant werden, als dies im Spätsommer 1940 möglich gewesen war; für den Hauptangriff der Südwestfront (das sowjetische Gegenstück zu einer Heeresgruppe) waren nicht weniger als 122 Divisionen vorgesehen. Die Südwestfront sollte über fast die Hälfte aller Panzer- und motorisierten Divisionen verfügen, das waren etwa 7.000 einsatzbereite Panzer, doppelt soviel, wie die deutsche Wehrmacht für "Unternehmen Barbarossa" insgesamt einsetzte.

Ein Gelingen der sowjetischen Offensive mußte Deutschland in eine prekäre Lage bringen, denn nach der Abschneidung von den rumänischen Ölquellen und dem Verlust einer großen Zahl von Truppen und schweren Waffen in Polen und Ostpreußen hätte es den Krieg nur noch unter größten Schwierigkeiten fortsetzen können.

Die Behauptung, daß Stalin den "Schukow-Plan" abgelehnt habe, geht auf ein Interview zurück, das Marschall Schukow in den sechziger Jahren gegeben hat. Es exisitiert aber gleichzeitig ein Interview mit Marschall Wassilewski aus dem Jahre 1967, in dem dieser erklärte, Stalin habe den Plan sehr wohl angenommen! Die Frage, wer nun recht hat, ist mit etwas militärischer Sachkenntnis verhältnismäßig leicht zu entscheiden. Der "Schukow-Plan" enthält Anweisungen für den Aufmarsch bzw. die Kräfteverteilung der Roten Armee, und wenn man diese mit dem realen Aufmarsch der sowjetischen Streitkräfte vergleicht, dann wird man eine sehr weitgehende Übereinstimmung feststellen. Der "Schukow-Plan" sah eine Schwerpunktbildung, das heißt eine Konzentration der Angriffsverbände, der Panzer- und motorisierten Divisionen, in den Frontvorsprüngen bei Bialystok und Lemberg vor, die geographisch eine gute Absprungbasis für strategische Offensivoperationen bildeten – und genau so war die Rote Armee am 22. Juni 1941 aufmarschiert. Für die strategische Verteidigung war dieser Aufmarsch ungeeignet, da die in den Frontvorsprüngen konzentrierten Verbände vom Gegner, wenn dieser zuerst angriff, rasch umfaßt und vernichtet werden konnten. Auf dieser Tatsache und auf der Unfertigkeit des sowjetischen Aufmarschs beruhten die großen Erfolge der Wehrmacht in den Grenzschlachten des Sommers 1941. Die Übereinstimmung des realen Aufmarschs der Roten Armee mit den Angaben des "Schukow-Plan" beweist, daß dieser tatsächlich der gültige sowjetische Operationsplan war. Es ist schlicht unvorstellbar, daß der Generalstabschef die Rote Armee gegen den Willen Stalins zur Offensive aufmarschieren ließ. Spätestens nachdem eben dieser Aufmarsch zu einer militärischen Katastrophe geführt hatte, hätte Schukow vor ein Kriegsgericht gestellt werden müssen – aber nichts dergleichen geschah.

Dies allein ist aber noch kein Beweis dafür, daß Stalin wirklich einen Angriffskrieg gegen das Deutsche Reich plante – der Aufmarsch der Roten Armee konnte genausogut als Drohmittel zur Erpressung politischer und territorialer Zugeständnisse eingesetzt werden. Und tatsächlich existiert bislang kein Dokument, das auf einen Angriffsbefehl hinweist. Dieser Punkt wird aber gerne überschätzt, da der sowjetische militärische Aufmarsch bereits an sich eine schwere Bedrohung für das Deutsche Reich darstellte. Einige Zahlen sollen dies veranschaulichen.

Der Aufmarsch der Roten Armee gliederte sich in zwei strategische Staffeln, eine dritte strategische Staffel befand sich in Aufstellung. Am 22. Juni waren 237 Divisionen, darunter 40 Panzer- und 20 motorisierte Divisionen, aufmarschiert oder im Aufmarsch begriffen. Die erste strategische Staffel umfaßte 170 Divisionen. Gemäß "Schukow-Plan" sollten insgesamt 258 Divisionen zum Einsatz kommen. Das russische Heer verfügte am 22. Juni über 14.700 gefechtsbereite Panzer (von insgesamt 23.200) sowie mehr als 79.000 Geschütze und Granatwerfer. Die sowjetischen Luftstreitkräfte besaßen etwa 20.000 Frontflugzeuge, von denen am 22. Juni 13.300 einsatzbereit waren. Etwa 3.700 davon konnten als modern und den deutschen Typen ebenbürtig angesehen werden.

Auf deutscher Seite standen am 22. Juni 1941 an der Ostfront 153 Divisionen, davon 19 Panzer- und 14 motorisierte Divisionen, sowie 37 Divisionen der Verbündeten, insgesamt also 190 Divisionen, bereit. Das deutsche Heer verfügte über 3.500 Panzer, von denen die Hälfte aber nur veraltete MG-Träger waren. An Artillerie waren 8.100 Geschütze vorhanden. Die Luftwaffe besaß 2.500 Frontflugzeuge, denen noch 900 Maschinen der Verbündeten hinzugerechnet werden konnten. Die aufmarschierenden zwei strategischen Staffeln der Roten Armee waren dem deutschen Ostheer und seinen Verbündeten von der Zahl der Divisionen her nur im Verhältnis 1,3 : 1 überlegen, bei den schweren Waffen war das sowjetische Über-gewicht aber erheblich. Es betrug bei der Artillerie 8 : 1, bei den einsatzbereiten Panzern 4 : 1 und bei den einsatzbereiten Frontflugzeugen 4,5 : 1.

Es gelang der deutschen Führung mit Hilfe ihrer Luft- und Funkaufklärung, den sowjetischen Aufmarsch bis zu einer Tiefe von 400 Kilometern ziemlich genau aufzuklären, weiter reichte die Eindringtiefe der deutschen Höhenaufklärer nicht. Tatsächlich wurden von deutscher Seite 160 sowjetische Divisionen der ersten strategischen Staffel festgestellt, nicht aber die zweite und dritte strategische Staffel.

Zum Verständnis der Situation muß man sich die Geographie vor Augen führen: Die deutsche Ölversorgung hing von den rumänischen Ölfeldern bei Ploesti ab, diese lagen aber nur 200 Kilometer von der sowjetischen Grenze entfernt. Die Sowjetunion konnte die rumänischen Ölanlagen mit ihren Mittelstreckenbombern zerstören, sie konnte sie überfallartig mit Heerestruppen besetzen oder durch eine Invasion Südpolens die deutsche Verbindung nach Rumänien unterbrechen. Mit anderen Worten, sowjetische Truppenkonzentrationen im Frontvorsprung bei Lemberg und an der rumänischen Grenze stellten automatisch eine schwere Bedrohung der deutschen Ölversorgung dar. Dieser Sachverhalt war in Moskau ebenso bekannt wie in Berlin, und er hat im deutschen Entscheidungsprozeß eine zentrale Rolle gespielt. Dies ist besonders eindringlich in dem Protokoll des Gesprächs zwischen Hitler und Marschall Antonescu dokumentiert, das die beiden Staatsmänner am 11./12. Juni 1941 in München führten und in dem Hitler in umfassender Weise seine Motive für den bevorstehenden Feldzug gegen die Sowjetunion darlegte. Faßt man die bei diesem Treffen und bei anderen Anlässen vorgetragenen Argumente zusammen, so ergibt sich, daß Hitler und die Wehrmachtsführung sich aufgrund eines Bündels von Motiven für "Unternehmen Barbarossa" entschieden:

1. Die Kenntnis der expansiven Außenpolitik Moskaus und des gewaltigen Aufrüstungsprogramms der Sowjetunion.

2. Die Notwendigkeit, die für die deutsche Kriegswirtschaft lebenswichtigen Ölquellen Rumäniens vor dem drohenden Zugriff Moskaus oder Angriffen der sowjetischen Luftstreitkräfte zu schützen.

3. Die gewaltsame Sicherung der Rohstoffe und Nahrungsmittel der Ukraine für den von Deutschland beherrschten europäischen Raum, die im Falle einer politischen Konfrontation mit der Sowjetunion nicht mehr zugänglich wären.

4. Die Weigerung Moskaus, dem von Hitler geplanten Kontinentalblock gegen die Angelsachsen beizutreten.

5. Die Befreiung aus der drohenden Einkreisung durch England, die USA und die UdSSR durch die Zerschlagung des Sowjetstaates.

6. Die Erkenntnisse über den Aufmarsch der Roten Armee an der Grenze des deutschen Machtbereichs ab März/April 1941.

Hitler selbst glaubte im Juni 1941 übrigens weniger an einen direkten Angriff auf das Reich als vielmehr an militärische Aktionen oder Erpressungsmanöver gegen Rumänien und Finnland, was aber im Hinblick auf die deutsche Wehrwirtschaft ebenso gefährlich gewesen wäre. In dieser Situation sah er kaum eine andere Möglichkeit, als nicht länger abzuwarten und selbst den ersten Schlag zu führen.

Über die Motivation Stalins und der sowjetischen Führung sind wir sehr viel schlechter informiert, da Dokumente nur bruchstückhaft vorhanden sind und die Memoirenliteratur häufig irreführend ist. Belegt ist, daß Stalin im August 1939 den Nichtangriffspakt mit Hitler abschloß, um einen europäischen Krieg auszulösen, der zur Schwächung der "imperialistischen Kapitalisten" und zur Ausweitung des sowjetischen Machtbereichs führen sollte. Belegt ist weiterhin, daß die Moskauer Führung mindestens ab dem Spätsommer 1940 mit einem Krieg gegen Deutschland rechnete und diesen Krieg offensiv führen wollte. Und es ist eine unumstößliche Tatsache, daß der sowjetische Aufmarsch eine schwere Bedrohung der deutschen Ölversorgung und damit elementarer Sicherheitsinteressen des Reiches darstellte. Man kann hier eine Parallele zur Situation des Jahres 1962 ziehen, als sich die Vereinigten Staaten durch die Stationierung sowjetischer Mittelstreckenraketen auf Kuba bedroht sahen; die Kennedy-Administration riskierte damals bekanntlich einen Nuklearkrieg, um Moskau zum Abzug dieser Raketen zu zwingen.

Ob Stalin im Sommer oder Herbst 1941 den Krieg eröffnen oder nur eine Drohkulisse für Erpressungsmanöver aufbauen wollte, ist bislang nicht zweifelsfrei zu entscheiden. Vieles deutet aber darauf hin, daß die Rote Armee tatsächlich angreifen sollte; dazu zählt die Aufstellung einer polnischen "Befreiungsarmee" Anfang Juni 1941, vor allem aber die Eigendynamik, die einem militärischen Aufmarsch dieser Größenordnung innewohnt. Von irgendeinem Zeitpunkt an mußte die sowjetische Führung mit der Entdeckung ihres Offensivaufmarsches und mit massiven deutschen Gegenreaktionen rechnen. Über die These vom "überraschenden Überfall auf die friedliebende Sowjetunion" sind daher nicht viele Worte zu verlieren. Die Moskauer Führung wurde weder auf der politischen noch auf der strategischen Ebene überrascht, sondern allenfalls auf der taktisch-operativen, d.h. von Zeitpunkt und Wucht des deutschen Angriffs.

Inwieweit man "Unternehmen Barbarossa" als Präventivkrieg bezeichnen kann, hängt davon ab, wie man diesen Begriff definiert. Faßt man ihn im völkerrechtlichen Sinne auf, als offensive Abwehr einer unmittelbaren militärischen Bedrohung, so muß man feststellen, daß dies nur eines unter mehreren Motiven war, die Hitler und die Wehrmachtsführung zum Angriff auf die Sowjetunion veranlaßten; zudem trat dieses Motiv erst relativ spät in den Gesichtskreis der deutschen Führung, zu einem Zeitpunkt, als die Entscheidung für den Feldzug schon mehr oder weniger gefallen war. Der deutsche Angriff hatte also nicht die Ausschaltung einer unmitelbar bevorstehenden, sondern einer mittel- bis langfristigen Bedrohung zum Ziel. Man kann daher von einem deutschen Präventivkrieg nicht im völkerrechtlichen, sondern nur in einem weitergefaßten, allgemeinen Sinne sprechen.

Die These, daß Hitler "die Weltrevolution erstickte und das Rote Weltimperium verhinderte", ist aus mehreren Gründen ziemlich spekulativ. Für Nordamerika bestand nie ernsthaft die Gefahr einer kommunistischen Machtübernahme, während nach 1945 Osteuropa, China, Nordkorea und Indochina unter kommunistische Herrschaft fielen. Hitler hat die Weltrevolution nicht erstickt, vielmehr konnte sich der Kommunismus als Folge des Zweiten Weltkrieges erheblich ausbreiten. Allenfalls ließe sich behaupten, daß Westeuropa seine Freiheit dem deutschen Feldzug gegen die Sowjetunion verdanke, aber derartige Fragestellungen und Thesen gehören in den Bereich der Deutungen und freizügigen Interpretationen.

Beschränkt man sich auf den Bereich der nachprüfbaren und einwandfrei beweisbaren historischen Fakten, so ist festzustellen, daß Stalin und die sowjetische Führung am Ausbruch des deutsch-sowjetischen K rieges mindestens eine schwere Mitschuld trifft. Dies ist vielleicht weniger spektakulär, aber es genügt völlig, um das etablierte Geschichtsbild nachhaltig in Frage zu stellen.

 

Dr. Walter Post ist Historiker in München.Er veröffentlichte u.a. die Bücher ",Unternehmen Barbarossa. Deutsche und sowjetische Angriffspläne 1940/41" (Mittler & Sohn, Hamburg 1996, 450 Seiten, 29,80 Mark) und "Die verleumdete Armee. Wehrmacht und Anti-Wehrmacht-Propaganda" (Pour le Mérite, Selent 1999, 320 Seiten, 49,90 Mark).


 
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