© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    04/01 19. Januar 2001

 
Was von Preußen bleibt
Der vor 300 Jahren gegründete preußische Staat wurde erst durch seinen Untergang zu einem Mythos
Baal Müller

Pünktlichkeit ist meistens nützlich und notwendig. Manchmal kann sich aber auch Unpünktlichkeit als ein Glück erweisen, beispielsweise wenn ich einen Zug verpasse, der wenig später entgleist. Kants kategorischer Imperativ, der allgemein als höchster Ausdruck preußischer Pflichtethik gilt, fordert dazu auf, bei einer Handlung immer deren Auswirkung auf das Gemeinwohl mitzubedenken, ja sogar sich so zu verhalten, daß die "Maxime" eines individuellen Willens "jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten" könne. Er verpflichtet den Einzelnen auf das Gemeinwesen, sagt aber nichts darüber aus, worin denn in einem konkreten Falle dessen Nutzen bestehe. Gut ist, was alle dürfen können; aber wann können sie es dürfen? Doch nur, wenn ich schon weiß, daß es gut ist. Ich benötige neben diesem allgemeinen und formalen Prinzip noch etwas Konkretes, eine spezifische Idee des Guten, die durch Glauben, Tradition und Lebensform vermittelt werden oder aus eigenem Nachdenken, in produktiver Auseinandersetzung mit dem Überlieferten, erwachsen kann. Dadurch gewinnt die abstrakte Gesetzlichkeit eine je verschiedene Gestalt, die sie vor dem Paradox des reinen Gesetzes, dem Umschlag in Gewalt bei seiner totalen Verwirklichung, bewahrt. Der Formalismus des kantischen Imperativs verlangt also nicht nur, wie seine Kritiker von Schopenhauer bis Scheler mißverstanden, "blinden Gehorsam", auch wenn Friedrich der Große allzu oft solchen anordnete, er verlangt nicht nur das Parieren zum Selbstzweck, sondern er fordert das Nachdenken darüber, warum eigentlich pariert werden soll.

Vielleicht besteht die Tragik Preußens darin, diese formale Forderung nicht genügend mit den notwendigen Inhalten erfüllt zu haben. Es trieb zwar den Gedanken der Staatsräson auf die Spitze, vernachlässigte aber denjenigen des Staatsmythos. Die oft geschmähten "Sekundärtugenden" haben nur dann einen Wert, wenn ihnen auch primäre Tugenden an die Seite gestellt werden. Solche aber erwachsen aus Traditionen, die Preußen nicht oder zu wenig besaß oder erst auszubilden begann, als sich der Untergang, der sein Aufgang im wilhelminischen Reich gewesen ist, bereits abzeichnete.

Preußen war kein "mythischer", sich durch Mythen legitimierender Staat, und auch keine "organische Konstruktion" im Sinne Ernst Jüngers. Organische Konstrukte sind eine contradictio in adjecto, ein hölzernes Eisen. Preußen wurde erst nach seinem Niedergang zu einem Mythos, weil es in Zeiten seines Aufgangs keinen besaß. "Alle Toten werden", nach einem japanischen Sprichwort, "zu Göttern"; und nur dadurch, und weil manche konservativen Verehrer Preußens dieses allzusehr mit Deutschland, die preußischen Tugenden mit den deutschen identifizieren, glauben sie heute, dieses rationalistische und absolutistische, durch und durch neuzeitliche Produkt der Aufklärung für ein organisches Staatswesen und den Inbegriff deutschen politischen Geistes halten zu dürfen.

Gewiß ist Preußen deutscher als etwa der völlig antideutsche, antipreußische Nationalsozialismus – der eher die deutsche Variante einer internationalen Ideologie gewesen ist –, aber es war nur ein Teil Deutschlands, ein Abschnitt deutscher Geschichte, keine Nation, zu der ein spezifisches Staatsvolk gehörte, sondern ein deutschsprachiger Staat, der sich nach und nach durch seine eigene Pragmatik legitimierte. Aufgrund seiner ungünstigen geographischen Situation, seiner territorialen Zersplitterung und der Nachbarschaft großer und mächtiger Feinde, konnte Preußen niemals in sich beharren; es mußte immer ausgreifen und wachsen, um nicht zu verschwinden, und tat dies unter der harten, aber für seine Geschicke günstigen Führung seiner ehrgeizigen Herrscher. Preußische Tugenden kann man diesen selten nachsagen; eher waren sie um so erfolgreicher, je weniger "Treu und Redlichkeit" sie übten, allen voran Friedrich der Große, der die politischen Tugenden der Tarnung, Verstellung und des listigen Zugreifens in seiner Jugend unter großen Qualen lernen mußte, um unter dem außerordentlich brutalen Regiment seines Vaters nicht psychisch und physisch zu zerbrechen.

Der beliebte Vorwurf, er sei von den ethischen Grundsätzen seiner frühen, gegen Machiavelli gerichteten Streitschrift bald abgewichen, greift insofern ins Leere, als sich in der demonstrativen Ablehnung Machiavells dessen Schule gerade besonders zeigt. Machiavelli war gewiß kein Machiavellist, sonst hätte er seine Lehre nicht öffentlich vertreten; und ein Machiavellist wird Machiavelli immer verleugnen und statt dessen Treue und Redlichkeit beschwören. Allenfalls hat Friedrich den entarteten Machiavellismus, den pomphaft-egoistischen Absolutismus kritisiert, um ihm den eigentlich machiavellistischen, den aufgeklärten Absolutismus entgegenzusetzen.

Die reine Staatsräson als militärische Expansion und Vergrößerung des zersplitterten und ständig bedrohten Territoriums kann heute für ein Land, das von lauter Freunden "umzingelt" ist (Volker Rühe), oder für eine Staatengemeinschaft, die daran leidet, ihre Grenzen nicht mehr durch kulturelle Identitäten definieren zu können, nicht mehr viel besagen. Zwar werden dadurch die preußischen Tugenden nicht überflüssig, und es ist richtig und notwendig, das kulturelle Erbe Preußens zu vermitteln und zu fördern, aber wir benötigen nicht in erster Linie mehr Disziplin, Ordnung und Pünktlichkeit, sondern eine Idee, warum wir diszipliniert, ordentlich und pünktlich sein sollen.

Der inhaltliche Aspekt der preußischen Ethik, ihre Erfüllung mit Werten, Bildern und Mythen, stellt die eigentliche Aufgabe dar, die anders als das reine Sollen selbst keine Pflichterfüllung, sondern eine Angelegenheit eigenen und freien Nachdenkens ist. In diesem Zusammenspiel von Freiheit und Pflicht, nicht nur im Zerrbild des bloßen "Kadavergehorsams", hat man die eigentliche Herausforderung zu suchen, die Preußen noch an uns stellen kann, mehr das ideale Preußen freilich, das sich in der historischen Konkretion äußerst selten zeigte. Sie ist für die Gegenwart insofern eine Herausforderung, als unsere Zeit im allgemeinen nur das Entweder – Oder kennt: entweder den blinden Gehorsam und die völlige Schickung in den Willen von Partei, Kollektiv und Obrigkeit – oder den totalen Individualismus und rabiaten Hedonismus, der wieder in einen Kollektivismus umschlagen kann.

Mit dieser Zusammengehörigkeit von Freiheit und Notwendigkeit verbindet sich eine ausgewogene Stellung zum Staat, die dem Extrem des die individuellen Freiheiten negierenden Totalitarismus ebenso abgeneigt ist wie einer staatsfeindlichen Verabschiedung seiner Ordnungsmacht und seines Gewaltmonopols. Von Preußen lernen kann man auch heute noch; wieder aufbauen freilich kann man es nicht mehr.


 
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