© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    04/01 19. Januar 2001

 
Pankraz,
W. Shakespeare und das Sonett Nummer 66

Es erscheint an der Zeit, daß wieder einmal eine neue deutsche Übersetzung des Sonetts Nummer 66 von William Shakespeare unter die Leute gebracht wird. Dieses Sonett ist ja so etwas wie das Schicksalsgedicht der Deutschen, "die Lili Marleen der deutschen Intellektuellen", wie der Göttinger Germanist Ulrich Erckenbrecht mit sanftem Sarkasmus geschrieben hat. Unübersehbar ist die Strecke der Übersetzer seit Dorothea Tieck, es gibt gelehrte Abhandlungen über die Art, wie Deutsche das Sonett Nr. 66 übersetzen, es gibt Vertonungen (u.a. von Hanns Eisler), es gibt sogar ernstgemeinte Versuche britischer Germanisten, ihrerseits eine "definitive deutsche Fassung" zu formulieren.

Den Briten selbst ist die Herausgehobenheit der Nummer 66 aus dem Corpus der übrigen 154 Shakespeare-Sonette nie aufgefallen, sie haben davon jedenfalls nie ein Aufhebens gemacht. Was fasziniert die Deutschen so an dem bitteren, gewaltigen Text? Bevor Pankraz etwas dazu sagt, möchte er zunächst einmal, in Frömmigkeit und Ehrfurcht, das Original hinschreiben und anschließend die seiner Meinung nach (und nicht nur seiner Meinung nach) beste deutsche Version, die es bisher gegeben hat; sie stammt von Stefan George:

Tir’d with all these, for restful

death I cry.-

As, to behold desert a beggar born,

And needy nothing trimm’d in

jollity,

And purest faith unhappily

forsworn,

And gilded honour shamefully

misplaced,

And maiden virtue rudely

strumpeted,

And right perfection wrongfully

disgraced,

And strength by limping sway

disabled,

And art made tongue-tied by

authority,

And folly (doctor-like) controlling

skill,

And simple truth miscall’d

simplicitiy,

And captive Good attending

Captain Ill:

Tir’d with all these, from these

would I be gone,

Save that, to die, I leave my love

alone.

Die Nachdichtung von
Stefan George stammt
aus dem Jahre 1909:

Dies alles müd, ruf ich nach todes

rast:

Seh ich Verdienst als Bettelmann

geborn

Und dürftiges Nichts in Herrlichkeit gefasst

Und reinsten Glauben unheilvoll

verschworn

Und goldne Ehre schändlich

missverwandt

Und jungfräuliche Tugend roh

geschwächt

Und das Vollkommne ungerecht verbannt

Und Kraft durch lahme lenkung

abgeflächt

Und Kunst schwer-züngig vor der

obrigkeit

Und Geist vorm doctor Narrheit

ohne recht

Und Einfachheit missnannt

Einfältigkeit

Und sklave Gut in dienst beim

herren Schlecht.

Dies alles müd, möcht ich

gegangen sein,

Liess ich nicht, sterbend, meine

Lieb allein.

Manche sind nicht mit George einverstanden und nennen seine Version "Umdichtung" statt Nachdichtung. Jeder Linearvergleich aber bringt an den Tag, daß George in größter Treue dem Original folgt. Jede Zeile drückt genau aus, was Shakespeare gemeint hat, und Georges Sprache ist auch (im Unterschied zu vielen anderen Versionen) an poetischer Kraft und Schönheit dem Manne aus Stratford gewachsen. Einzig sie bildet voll das schmerzlich Hämmernde des Originals mit den durchgehaltenen Unds nach, das Atemlose, die Aufzählung, die sich ins Unendliche fortsetzen möchte.

George hat gewissermaßen die "ewige" deutsche Fassung des Sonetts Nr. 66 geliefert, darin liegt seine Größe – und gleichermaßen sein Manko. Denn Shakespeares Text an sich ist nicht "ewig", ist nicht feierlich à la George. In ihm pulst vielmehr ungeheure Zeitgenossenschaft, eine geradezu investigative Schmutzaufwühlerei und Leitartikelwut (man vergegenwärtige Zeile zehn: "folly (doctor-like) controlling skill"). Zur Poesie tritt unverblümt der Journalismus, zur existentiellen Bitterkeit der aktuelle Grimm des Theaterrampen-Agitators.

Wahrscheinlich war es dies, was die deutschen Intellektuellen immer so am Sonett Nr. 66 gereizt hat: heißeste Zeitkritik, die dennoch ohne Rest in Poesie umgesetzt wird, vollendete Einheit von Aktualität und Ewigkeit. So etwas kann natürlich nur in der Originalsprache gelingen, allenfalls noch in einer Übersetzung, deren Autor mit dem Autor des Originals in genau derselben Zeit lebt.

Spätere Übersetzungen müssen, um den echten Odeur des Originals rüberzubringen, immer wieder aktualisiert werden, wodurch eine eigentümliche Spannung entsteht zwischen Treue zum Wortlaut und Treue zur Intention. Und wodurch eben auch alle Jahre wieder eine neue Übersetzung von Sonett Nr. 66 fällig wird, die in die Zeit paßt und just in dieser Bezogenheit Shakespeare die Ehre erweist.

Hier folgt die Version von Pankraz, geschrieben in Demut aus dem Geist der Wende vom zwanzigsten zum einundzwanzigsten Jahrhundert:

Müd alles dessen, sehn ich mich

nach Tod,

So wenn Verdienst geht unterm

Bettlerhut

Und pures Nichts in herrscher-

lichem Rot

Und frömmster Glaube hohnvoll

ausgebuht

Und wichtigste Ämter schändlich

mißverwandt

Und Mädchenehre grell als Witz

belacht

Und große Tat in Bosheit um-

benannt

Und Macht per Impotenz auf Null

gebracht

Und Kunst vom Zeitgeist elend

eingeschnürt

Und Wissenschaft ein einziges

Narrenschrein

Und schlichter Fakt als Dumm-

heit denunziert

Und Sklave Gut in Hand von

Käptn Schwein...

Des allen müd, wünsch ich, weit

wegzugehn.

Doch wer wird dann nach meiner

Liebe sehn?


 
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