© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    04/01 19. Januar 2001

 
U-Boot-Bauer, Doktor Mabuse und andere Nordelbier
Lexikon: 125 neue schleswig-holsteinische Lebensläufe
Uwe Praysen

Vierzig Jahre hat es gedauert, bis 1910 die 55 dickleibigen Bände der "Allgemeinen Deutschen Biographie" (ADB) mit ihren 26.300 Beiträgen vorlagen. Eine Leistung, die mit einem Redakteur, dem als Probst eines adeligen Damenstifts in Schleswig amtierenden Germanisten Rochus von Liliencron und einer Halbtagskraft erbracht wurde. Sechzig Jahre dürfte die mit erheblich größerem Aufwand ins Werk gesetzte, wiederum von der Historischen Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften verantwortete und im Berliner Verlag von Duncker&Humblot erscheinende "Neue Deutsche Biographie" benötigt haben, wenn man endlich um 2015 ihren letzter Band in Händen hält, ein Glück, das manchem privaten Abnehmer, der sich den ersten Band 1953 zulegte, wohl nicht mehr beschieden sein dürfte. Solch ein überlanger Erscheinungszeitraum ist nicht gerade imponierend, wenn man bedenkt, daß von Liliencron und seine Nachfolger der technische Quantensprung von der Stahlfeder zum PC trennt.

Doch offensichtlich läßt sich die Herkulestat eines biographischen Sammelwerks im Internetzeitalter nicht einmal im regionalen Rahmen über Nacht vollbringen, da ein gutes Dutzend solcher Unternehmen bis heute neben der Nationalbiographie auch nur als Torso dastehen. Ansehnliche dreißig Jahre sind denn auch ins Land gegangen, seit der erste Band des "Biographischen Lexikons für Schleswig-Holstein" erschien, für das Vorarbeiten um 1950 begannen. Seit einigen Monaten ist nun Band 11 auf dem Markt, so daß man sich jetzt immerhin über knapp 1.600 mehr oder weniger bedeutende Nordelbier informieren kann.

Erst seit 1996 steht das Unternehmen auf einem leidlich sicheren Fundament, da für die beiden wissenschaftlichen Redakteure feste Stellen im Haushalt der Kieler Landesbibliothek eingerichtet wurden. Auch wegen der zuvor zumeist recht improvisiert wirkenden Finanzierung weist das Gesamtwerk markante konzeptionelle Zäsuren auf. In den ersten drei Bänden gönnte man selbst Männern von nationalem und internationalem Rang wie Ernst Barlach, Lorenz von Stein, Friedrich Hebbel oder Theodor Storm kaum mehr als drei magere Druckseiten. Die Bände 4 bis 6 mußten sich auf die Zeit des Absolutismus konzentrieren, da sie im Rahmen eines Sonderforschungsbereichs an der Kieler Universität ("Skandinavien- und Ostseeraumforschung") von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert wurden. Das 19. und vor allem das 20. Jahrhundert (mit einem Schwerpunkt auf Weimarer Republik und Drittes Reich) gewinnen erst ab Band 7 etwas schärferes Profil. Das wiederum führt inzwischen schon zu bizarren Disproportionen: Der Nationalökonom Lorenz von Stein, einer der ersten Deuter der Industriegesellschaft von europäischem Format, Anreger von Karl Marx, mußte sich 1970 mit einer Seite begnügen, während die Viten drittrangiger NS-Lokalgrößen, von denen sich in Band 10 und 11 einige finden, in nahezu epischer Breite geschildert werden.

Leider ist auch zu registrieren, daß manchen Beiträgern die gebotene lexikalisch-nüchterne Contenance abhanden kommt, wenn sie den Rubikon von 1933 überschreiten müssen. Angesichts solcher Tendenzen nehmen sich die in Band 11 veröffentlichten Biographien aus dem Umfeld der "Konservativen Revolution" (Harro Schulze-Boysen, Gustav Steinbömer, A. Paul Weber) wohltuend sachlich aus, wenn auch der bekanntlich nicht eben unbefangene Berliner Historiker Hans Coppi in seinem Schulze-Boysen-Porträt einmal mehr die landesverräterische Qualität des Kopfes der "Roten Kapelle" zu minimalisieren versucht. Dem Bestreben, das "andere Deutschland" gebührend zu würdigen, sind die drei jungen katholischen Priester Eduard Müller, Hermann Lange und Johannes Prassek sowie der evangelische Pastor Karl Friedrich Stellbrink vertreten, die ihr regimekritisches Wirken 1943 mit dem Leben bezahlten. Was allerdings Erich Mühsam, der anarchistische Schriftsteller und Exponent der Münchener Räteregierung von 1918/19, in diesem Lexikon zu suchen hat, ist kaum verständlich. Der 1878 in Berlin geborene, 1934 im KZ Oranienburg getötete Publizist war lediglich durch einige Schul- und Lehrjahre mit Lübeck verbunden, darf jetzt aber mehr Platz beanspruchen als der in Band 8 zu findende Hansestädter Thomas Mann oder der im Elsaß geborene Sozialdemokrat Julius Leber, der an der Trave als Journalist und Bürgerschaftsabgeordneter zwischen 1921 und 1933 immerhin einen Mittelpunkt seines politischen Wirkens fand. Einen Grenzfall hingegen stellt Carl Clauberg dar, von dem es mitunter salopp-zynisch heißt, er sei der eigentliche Vater der Anti-Baby-Pille, weil seine Forschungsunterlagen als Kriegsbeute den US-Amerikanern in die Hände fielen, die sich einmal an geistigem Eigentum deutscher Herkunft vergriffen hätten. Der in Kiel aufgewachsene Clauberg profilierte sich zwar schon während der Assistenzarztjahre an der Förde (1925–1932) als Autorität auf dem Gebiet der weiblichen Sexualhormone, doch seinen zweifelhaften Dr. Mabuse-Ruhm als ein Protagonist der "Medizin ohne Menschlichkeit" begründete er in Königsberg und im oberschlesischen Königshütte, wo er mit Himmlers Unterstützung weibliche Häftlinge aus Auschwitz für ein Massensterilisierungsprogramm mit zumeist letalem Ausgang heranzog.

Immer noch hoffnungslos unterrepräsentiert sind die Militärs, Techniker und Unternehmer, die aus Schleswig-Holstein stammen oder die dort ihr Betätigungsfeld fanden. Mit welchen "Kalibern" man es auf diesem Sektor zu tun bekommt, demonstrieren die Beiträge über die Ingenieure und Konstrukteure Hellmuth Walter und Ulrich Gabler, die beiden Zentralfiguren des deutschen U-Bootbaus seit den dreißiger Jahren. Gablers Ingenieurkontor Lübeck, das seit 1958 alle U-Boot-Klassen für die Bundesmarine entwarf und darüber hinaus für den Export in Nato-Staaten, nach Südamerika und Asien produzierte, arbeitete für die führende deutsche U-Boot-Werft Howaldtswerke-Deutsche Werke in Kiel, bevor es 1993/94 von dieser übernommen und in die Werft integriert wurde.

Beim projektierten Abschluß dieses auf dreißig Bände ausgelegten Lexikons, den man gemessen an der heutigen Publikationsfolge (alle vier Jahre ein Band) irgendwann auf die Jahre zwischen 2030 und 2040 datieren muß, dürfte der Literaturwissenschaftler Hartwig Molzow, seit 1982 eine Art leitender Redakteur des Lexikons, etwa Rochus von Liliencrons biblisches Alter erreicht haben, als dieser sich 1907 mit 87 Lenzen nach getaner Arbeit zur Ruhe setzte. Da sage noch einer, Geschichte wiederholt sich nicht.


 
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