© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    05/01 26. Januar 2001

 
Menetekel Rinderwahn
von Baldur Springmann

Gezählt – gezählt – gewogen – geteilt: Das hat nun wahrlich schon oft genug in balkendicken Buchstaben über dem Gastmahl unserer "fun-and-food"-Orgien gestanden – in solchen Buchstaben aber, wie die Natur sie schreibt.

Menetekel Baumsterben: "Hört endlich auf, die Euren Planeten umgebende Lebensluft und Eure Lebensgrundlage Mutterboden zu verpesten und zu vergiften!" – Aber trotz der zusätzlichen Mahnungen der einsichtigen Minderheit wollen die herrschenden Wirtschaftszaren weitermachen wie gehabt.

Menetekel Tschernobyl: "Hört endlich auf, solche Tabus zu mißachten, welche beispielsweise die ’primitiven‘ Aborigines sehr wohl als göttliche Mahnung erkannt und geachtet haben: ’... in jenen (uranhaltigen) Bergen schläft die Regenbogenschlange. Wer die weckt, bringt großes Unheil über die Welt ...‘" Aber trotz erster Erfolge der Einsichtigen möchten die herrschenden Zaren am liebsten weitermachen wie gehabt, und es ist durchaus nicht sicher, ob sie das letztlich nicht auch noch fertigkriegen.

Menetekel BSE: "Hört endlich auf, mit Lebewesen so umzugehen, als handelte es sich um Maschinen oder chemische Labors." – Aber nicht einmal dieser Schreckschuß, daß der durch menschlichen Profitwahnsinn erzeugte Rinderwahnsinn zurückschlägt in die Gehirne von Menschen, wird richtig verstanden. Oder bewußt überhört. Denn alles, was von seiten der Zaren zu hören ist, klingt, als käme es von einer aufgeregt durcheinander gackernden und durcheinander flatternden Hühnerherde und ist nichts als verzweifelte Suche nach Mitteln zur Symptombeseitigung. Dabei ist hier, im Bereich von Landwirtschaft und Ernährung, eher als in anderen Wirtschaftsbereichen der überall vorhandene unselige Zusammenhang von längst veralteter rein mechanistischer "Naturwissenschaft" und leider noch längst nicht veralteter Profitgier als Wirtschaftsmotor und zugleich als Ursache aller Übel evident.

Genau das, wovor der Entdecker der Hauptpflanzennährstoffe Justus von Liebig schon vor 130 Jahren in seiner Altersschrift "Chemische Briefe" unter dem Titel "Wider den Materialismus" gewarnt hat, genau das haben die materialistischen Agrarwissenschaftler zu höchster Perfektion gebracht: chemisch mit ungeheurem Energieaufwand aus dem luftisolierten und aufbereiteten Stickstoff als Kunstdünger "volle Pulle" in die Produktionsmaschine Pflanze rein, um deren Produktionsleistung in noch zu meiner Jugendzeit unvorstellbare Zahlen hochzujagen. Allerdings müssen die dem Rat von Professoren und Verbandsfunktionären folgenden "konventionellen" Landwirte dieses Treibmittel teuer von der chemischen Industrie einkaufen. Rationell oder auch nur rational? Die Ökobauern dagegen begnügen sich mit den naturgegebenen Prozessen, mit denen Uzotobakter im Humus und die Radicola-Bakterien der Leguminosen den Luftstickstoff pflanzenverfügbar machen, und dem damit naturgegebenen Spielraum der Ernteerhöhung durch sorgsame Bodenpflege.

Genau nach demselben Prinzip wie in dieser "pflanzlichen Produktion", die wir früher Ackerbau nannten, haben die "Wissenschaftler" in der "tierischen Produktion" jene Methoden entwickelt, durch die das in vergammeltem Fisch, Hühnerkot, Schlachtabfällen, Tierkadavern und sonstigem Zeugs vorhandene Eiweiß aus all dieser Jauche extrahiert und zu einem "Mehl" aufbereitet wird, dessen aberwitziger Eiweißgehalt aberwitzig hohe Milchmengen aus der Produktionsmaschine zäh herauskitzelt, Milchmengen, in denen wir ersaufen würden, wenn nicht ein Teil davon als Pulver in die "Dritte Welt" exportiert oder ein anderer Teil durch eine zu tausend Ungerechtigkeiten führende Quotierung gedrosselt würde. Und was geschieht jetzt, nach der BSE-Ohrfeige?

Erste Überlegung: Wo kriegen wir jetzt bloß genauso aberwitzige Mengen Eiweiß her, nachdem wir leider Tiermehl nicht mehr verfüttern dürfen? Also her mit jeder Menge Sojabohnen, ob nun genmanipuliert oder nicht, ob solche Eiweißmengen nun dem Verdauungstrakt eines Wiederkäuers behagen oder nicht. "Wir sind ja dazu gezwungen, weil die Masse der Verbraucher nicht bereit ist, freiwillig auch nur einen Pfennig mehr für einen Liter Milch auszugeben."

Zweite Überlegung, sogar öffentlichkeitswirksam von höchster Stelle verkündet: "Wir müssen endlich weg von dieser Agrarindustrie!" Bravo!

Doch von Gerhard Schröder kann man nicht erwarten, daß er als Autofachmann die wahren Konsequenzen seines populistischen Aufrufs überhaupt auch nur annäherungsweise ahnt. Der Hase liegt nicht da begraben, wo der Hinweis es vermuten läßt, es seien doch merkwürdigerweise die bisherigen BSE-Fälle gerade in mittelgroßen und kleinen Familienbetrieben aufgetreten. Denn nicht die Betriebsgröße in den Unterschieden, wie sie bis vor etwa 40 Jahren seit altersher üblich waren, sondern das ganz und gar andere Verhältnis zur belebten Natur unterscheidet Bauern von Agrarfabrikanten.

Ja, und nun? Muß es wirklich noch dicker kommen? Man braucht kein Prophet zu sein, um zu sagen: Der falsche Kurs kommt daher, daß unsere Steuerleute überhaupt keinen Kompaß haben. Gerade die am meisten mit ihrer "Fortschrittlichkeit" prahlende derzeitige "Elite", die Ingenieure modernster virtueller Scheinwelten, die Konstrukteure modernster Biokonstrukte, die Erfinder abstruser Gesellschaftsideologien, die Propagandisten und Nutznießer eines pervertierten Geldwesens, die Anbeter einer von exponentiellem "Wachstum" abhängigen und damit auf Zusammenbruch programmierten Wirtschaft – sie alle sind aus einem über Jahrtausende erreichten Status der menschlichen Evolution wieder weit zurückgefallen, was viel schlimmer ist, als diesen Status gar nicht erst erreicht zu haben:

Die Weiterentwicklung unserer Handlungsfreiheit und unserer Intelligenz gegenüber derjenigen von Tieren ist gekoppelt gewesen an einen entsprechendenVerlust von Instinkt, der für uns ehemals ähnlich wie heute noch für die Tiere der überlebensnotwendige Kompaß allen Tuns und Lassens war. Als Kompensation wiederum für diesen Verlust ist als eines der hauptsächlichen Merkmale des Menschenwesens, des Humanum die Religiosität entstanden. Dieses Wesensmerkmal ist seitdem genauso unser überlebensnotwendiger Kompaß wie einst der Instinkt und darf um Gotteswillen nicht mit einer der vielen Ausdrucksformen derselben, einer Religion verwechselt werden. Meine Beschreibung von Religiosität ist: Die Fähigkeit zur bewußten Kommunikation mit dem Göttlichen, deren Bruder Tier und Schwester Pflanze nicht bedürfen, weil sie ja noch "im Paradies", also ganz und gar unbewußt durchgottet sind.

Entweder also werden unsere Wirtschafts- und Politikzaren auf den heute zumeist als "kindlich" belächelten Hinweis hören, daß menschliches Handeln ohne diesen Kompaß in die Irre führen muß, und diesem Hinweis entsprechend rundum in fast allen Sektoren an der vom anbrechenden Wassermannzeitalter geforderten Kurskorrektur mitwirken ... oder es kommt das nächste, noch erschreckendere Menetekel oder auch schon gleich das, was mit Babylon und der Titanic geschehen ist.

Deswegen wiederhole ich, so oft ich Gehör finde, die Forderung, um deren willen ich vor zwanzig Jahren bei den Grünen ausgebuht worden bin: Wir müssen auf europäische Art das verwirklichen, was Gandhi auf indische Art versucht hat – eine von Religiosität durchleuchtete und von volklicher Eigenart getragene Politik.

Als Fachmann wiederhole ich den Vorschlag zur Verwirklichung der grundsätzlichen Forderung, den ich erstmals 1987 gemacht habe. Der damalige schleswig-holsteinische Landwirtschaftsminister Günter Fleßner war bereit, zunächst in zehn Betrieben die Effektivität einer solchen Agrarpolitik erproben zu lassen, und die Landwirtschaftskammer hatte bereits im Bauernblatt ein Formular eröffnet, mit dem Interessenten zu diesem Experiment sich melden konnten. Dann kam aber die "Bartels-Krise", und hier im Lande lief nichts mehr. Alle späteren Versuche einer Reaktivierung stießen auf freundliches Schulterzucken und den bedauernden Hinweis "… aber Bonn, …aber Brüssel …" Dennoch glaube ich auch heute noch, daß eine derart begründete und ausgerichtete Agrarpolitik ein Beispiel und ein Vorläufer für die von all den Menetekels geforderte Wende auf allen Gebieten von Wirtschaft und Politik sein könnte.

Daher nochmals meine zehn Thesen zur bäuerlichen Landwirtschaft:

1. Urproduktion ist das bedeutsamste Merkmal bäuerlicher Landwirtschaft. Bäuerliches Tun ist das Steuern und Steigern von Naturprozessen innerhalb ihrer naturgegebenen ökologischen Zusammenhänge. Unabhängig von der Hofgröße entsteht durch solche Arbeit aus Lichtenergie und Bodenfruchtbarkeit vermehrte Lebensenergie. Außer Energie (welche noch vor hundert Jahren ebenfalls ausschließlich diesem Urprozeß entstammte – in Menschen- und Pferdemuskeln) ist auch heute noch zu dieser Wirtschaftsweise keinerlei Input erforderlich.

2. Industrielle Montage ist das bedeutsamste Merkmal der heute noch "konventionell" genannten Landwirtschaft. Agrarindustrielle Tätigkeit – wiederum unabhängig von der Betriebsgröße – benutzt Tiere und Pflanzen als Apparate zur Herstellung von Produkten aus weitgehend zugekauften Rohstoffen. Ähnlich wie in der übrigen Konsumgüterindustrie erscheint dabei nur etwa die Hälfte des Inputs wieder im Output. Alles andere wird Abfall, der wie der meiste industrielle Abfall lebensfeindlich ist. Ökologische Zusammenhänge werden dabei gestört, manchmal zerstört.

3. In der kapitalistischen Marktwirtschaft ist Landwirtschaft, in welcher Form auch immer, nicht konkurrenzfähig. Einer der Gründe für die prinzipielle Unmöglichkeit, als landwirtschaftlicher Unternehmer einen wie in der Konsumgüterindustrie üblichen Gewinn zu erwirtschaften, liegt in der begrenzten Umsatzgeschwindigkeit. Wenn ein Unternehmen nicht mindestens zehnmal im Jahr sein Kapital umsetzt, geht es heute pleite. Der Landwirt kann sein "Kapital" nur in mehreren Jahren einmal umsetzen. Gewinne entstehen ja aber nur durch Umsatz.

4. Landwirtschaft ist heute zugleich Unternehmen und Dienstleistung. Die in allen Industriegesellschaften längst üblichen verdeckten oder offenen Subventionen verschleiern nur die Tatsache, daß Landwirtschaft als reines Unternehmen heute nicht mehr möglich ist. Es ist eine gesellschaftliche und also auch politische Entscheidung, ob ein Staat "sich eine eigene Landwirtschaft leisten" will oder nicht. Wenn ja, muß man auch bereit sein, die damit verbundenen Dienstleistung ebenso zu honorieren wie jede andere.

5. Die Honorierung einer nachweislich umweltbelastenden Tätigkeit ist unverantwortbar. Solche Halbheiten wie "Stickstoffminimierung" und Roßtäuschereien wie "integrierter Landau" bedeuten keine Wende, sondern Vertuschung des prinzipiellen Festhaltens am industriellen System. Mindestvoraussetzung nachhaltig bäuerlichen Wirtschaftens ist der vollständige Verzicht auf Mineraldünger, gemischten "Pflanzenschutz" und flächenunabhängige Tierhaltung. Der damit geleistete Beitrag zur Umweltgesundung muß dann aber auch honoriert werden.

6. Nicht mit Besitz, sondern nur mit Arbeit kann man sich ein Honorar verdienen. Produkt- oder flächenbezogene Subventionen (wie gehabt) sind asozial. Sie erlauben nur Großbesitzern eine gewisse Abzweigung für persönlichen Bedarf. Die bisherige Agrarpolitik ist mitschuldig am brutalsten Bauernlegen der europäischen Geschichte. Also anstelle aller unwürdigen "Almosen-Subventionen" mindestens die Hälfte eines angemessenen Verdienstes für jede Vollarbeitskraft im ökologischen Landbau, zur Zeit etwa 35.000 Mark pro Jahr aus öffentlichen Mitteln als Honorar für Umweltschutz. Die andere Hälfte ist nach wie vor zu erwirtschaften.

7. Eine derart ehrliche und konsequente Agrarpolitik hätte auch bedeutsame soziale Effekte. Das Kleinbauerntum, dieser unersetzliche Mosaikstein im Gesellschaftsbild aller europäischen Kulturvölker, erhielte anstelle der nun auch in Polen drohenden Vernichtung eine neue Chance. Dem gnadenlosen "Strukturwandel" wäre ein Ende gesetzt.

8. Sozialer Effekt Nummer zwei: Entlastung des Arbeitsmarktes. Der höhere Arbeitskräftebedarf je Hektar im Kleinbetrieb und der allgemein höhere Arbeitskräftebedarf im ökologischen Landbau sowie die Begünstigung arbeitsintensiver Kulturen, insbesondere eine angemessene Bezahlung für die oft schwere Arbeit, würden ein Leben auf dem Lande wieder für mehr junge Menschen attraktiv machen.

9. Sozialer Effekt Nummer drei: Es würde nicht nur das Angebot biologischer Nahrungsmittel aus kontrolliertem Anbau erheblich steigen, mehr und mehr – je nachdem, wieviel Landwirte sich zur Umstellung entschließen –, die Fabrikwaren aus den Regalen zu verdrängen, sondern die nunmehr moderaten Preise würden sie auch für Wenigverdienende erschwinglich machen.

10. Es bedarf keines gesetzlichen Zwanges. Jeder Landwirt kann sich frei entscheiden, ob er weiter – allerdings ohne jegliche Subventionen – industriell produzieren will oder ob er Ökobauer werden will. Außerdem kann das milliardenteure, undurchschaubare Brüsseler Agrardickicht gerodet werden. Seine derzeitigen Nutznießer in Bürosesseln und Handelskontoren können sich dann ihr Geld mit Unkrauthacken auf einem Ökohof verdienen!

 

Baldur Springmann, 1912 im westfälischen Hagen geboren, bewirtschaftet als Bio-Bauer seinen Hof in Mecklenburg-Vorpommern. Er war Mitbegründer der Grünen und ist seit 1991 Mitglied der Unabhängigen Ökologen Deutschlands (UÖD). Außerdem engagiert er sich in der Deutschen Aufbau-Organisation (DAO) von Alfred Mechtersheimer. Buchveröffentlichungen: "Partner Erde" (1991) und seine Biographie "Bauer mit Leib und Seele (1995).


 
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