© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    06/01 02. Februar 2001

 
"Welt ohne Bürgertum"
Wolf Jobst Siedler über 1968 und den Umgang der Deutschen mit ihrer Geschichte
Moritz Schwarz

Herr Dr. Siedler, in der aktuellen Diskussion um die APO-Zeit wird eine schwarze Legende ("alles Terroristen") und eine goldene Legende ("alles Freiheitskämpfer") verbreitet. Sie sind Journalist und Publizist, warum gelingt es uns nicht – nach dem Mißlingen der Diskussion über das Dritte Reich –, die APO-Debatte patriotisch-konstruktiv, statt partikular-abrechnend oder verdrängend zu führen?

Siedler: Kulturpolitische Kontroversen dieser Art werden immer in zugespitzter Form geführt. Die wechselseitigen Standpunkte werden klarer, wenn man nicht um Abgewogenheit bemüht ist. Ich denke, daß die Forderung nach ausgewogenen – oder, wie Sie es sagen, "patriotisch-konstruktiven" – Antworten den Charakter solcher Auseinandersetzungen verkennt.

Warum?

Siedler: Das verlangt eine reflektierende Diskussion. So läuft das aber nicht, statt dessen werden dumpfe Stimmungen von einigen Wortführern radikal formuliert. Eine abwägende Debatte findet gemeinhin frühestens in der übernächsten Generation statt.

Woran liegt das, am politischen Personal, an der Eigengesetzlichkeit der Demokratie ...?

Siedler: An der Geschichte – so verläuft Geschichte.

Ist es nicht anders vorstellbar?

Siedler: Es wäre weltfremd, das zu erwarten.

Unsere Demokratie läuft also immer darauf hinaus, zu vereinfachen und Claqueure zu finden?

Siedler: Wir verlangen von den Menschen zuviel, wenn wir erwarten, daß sie rational sind: nachdenken, Argumente abwägen, Geschichte und Gegenwart reflektieren.

Wo soll es denn hinführen, wenn in jeder Generation solche neuen, bis aufs Messer verfeindenden Zwistigkeiten ausbrechen – wir haben doch alle gesehen, wie schon der Streit um die Epoche des Nationalsozialismus unser Gemeinwesen zerstört hat.

Siedler: Bedenken Sie: Wer hat den Streit? Das sind doch nur etwa zwei Prozent der Bevölkerung. Wenn Sie Otto Normalverbraucher fragen, den interessiert das überhaupt nicht. Das spielt sich nur zwischen wenigen aufgeregten Intellektuellen ab: es sind Schein-Diskussionen zwischen Schein-Intellektuellen.

Aber diese zwei Prozent bilden das Personal der öffentlichen Debatte. Und die öffentliche Debatte – nicht das Schweigen der Mehrheit – bestimmt die politische Atmosphäre und das nationale Gefühlsleben des Landes.

Siedler: Als ich mit 27 Jahren der frischgebackene Feuilletonchef des Tagesspiegels in Berlin wurde, sagte mir mein damaliger Chefredakteur: "Siedler, merken Sie sich ein für alle mal, es gibt keine öffentliche, sondern nur eine veröffentlichte Meinung!" Die Öffentlichkeit hat keine Meinung, die Meinung wird ihr immer von den Wortführern eingeredet.

Deutschland ist in besonderem Maße mit sich uneins.

Siedler: Deutschland ist tatsächlich in besonderem Maße aufgeregt. Das ist in der Tat in anderen Ländern, nehmen Sie nur Frankreich, England oder Amerika, anders. Soviel Unversöhnlichkeit und diese Art "Meinungsexplosionen", die gibt es dort eher selten. Das rührt natürlich von unserer Geschichte her, die eben nur allzu oft in Eruptionen verlief.

In den von Ihnen genannten Ländern herrscht weniger Aufgeregtheit, weil dort der Patriotismus eine versöhnliche, demokratische Funktion erfüllt.

Siedler: Es ist tatsächlich sehr erstaunlich, daß dieses Land das Ausmaß seines Zusammenbruches überhaupt nicht zu bemerken scheint: Daß der neunhundert Jahre alte Osten Deutschlands verloren ist, ist vergessen und verschmerzt. Die letzte Umfrage hat ergeben, daß sich noch drei bis fünf Prozent um den deutschen Osten kümmern, die anderen nehmen nicht mal Notiz davon, daß das deutsche Reich seine Geschichte verloren hat. Die Deutschen sind außerdem augenscheinlich nicht in der Lage, das Ausmaß der Veränderung ihrer staatlichen Existenz zu begreifen. Sie leiden offenbar gar nicht unter dem Ausmaß ihrer nationalen Katatstrophe. Sehr merkwürdig.

1968 war nicht der erste Protest der Jugend gegen eine Elterngeneration in der Geschichte Deutschlands. Warum aber begannen damit die Deutschen, sich selbst zu hassen?

Siedler: In der Tat fällt auf, daß in Deutschland immer eine Generation die vorhergehende verdammt und verzehrt hat. Das liegt natürlich daran, daß die deutsche Geschichte sehr unglücklich verlaufen ist und man sich immer von der vergangenen Generation absetzen mußte. Die Generation der zwanziger Jahre setzte sich vom Kaiserreich ab und verdammte mit gewissen Auswüchsen des Militarismus der Wilhelminischen Gesellschaft gleich die ganze Gesellschaft der vorangegangenen Generation. Bei der Gesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg zeigt sich dann dasselbe: man wollte – und mußte natürlich – die Ausschweifungen des Dritten Reiches verdammen, doch das bedeutete eben auch eine Verdammung der Generation der Väter und Großväter. Es war damals keine ausgewogene, sondern eine Verdammungsdebatte. Aber das sage ich mit der Milde dessen, der durch all die Zeit das Kommen und Gehen der gesellschaftlichen Debatten verfolgt hat. So ist es eben auf der Welt.

Geprägt war der Konflikt von gegenseitigem Haß. Wie ist es zu erklären, daß eine Elterngeneration die Jugend von ’68 schließlich wie einen Volksfeind "ins Lager" wünschte?

Siedler: Hans-Peter Schwarz, der Kölner Historiker, hat den schönen Satz gesagt: "Über der Adenauer-Welt lag der milde Abendglanz der bürgerlichen Kultur". Das ist sehr charakteristisch. Diese Welt wollte das Gewesene des Nationalsozialismus "links liegen lassen" und eine bürgerliche Gesellschaft, das eigene Land, wieder aufbauen. Man darf nicht zuviel verlangen von den Menschen, die aus vielen Jahren des Krieges, des Rußlandfeldzuges, des Bombenkrieges oder gar der Gefangenschaft zurückkamen. Die wollten verständlicherweise einfach nur wieder zurück in die Geborgenheit dieses "milden Abendglanzes". Natürlich mag es für die Nachgeborenen schwer verständlich gewesen sein, daß man das, was passiert war, nicht zum Gegenstand des Nachdenkens machte. Ist aber nicht das eine so verständlich wie das andere?

Die Weimarer Republik hatte den Fehler gemacht, einst die Jugend nicht gewonnen und sie linken und rechten Bolschewisten überlassen zu haben. Die Bundesrepublik wiederholte erstaunlicherweise diesen Fehler.

Siedler: So ist es immer.

Die Jugend erhob sich schließlich in unermeßlicher Anmaßung und Intoleranz zum Richter über die Jugendzeit ihrer Eltern. Beging sie nicht damit genau die Ungerechtigkeit, die ihr von der Elterngeneration entgegenschlug? Waren in diesem Sinne die ’68er also kein bißchen anders als die Eltern?

Siedler: Es ist eher merkwürdig, daß nach 1945 der Schock über die Untaten des Regimes ausblieb. Selbst in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen spielt die Ausrottung der Juden gar keine Rolle. Es wurden manche Fragen diesbezüglich nebenbei erwähnt, aber es war kein Gegenstand der Anklage. Erst eine Generation später wurde das ganze Ausmaß des Ausbruchs aus der bürgerlichen Gesellschaft, den der Nationalsozialismus darstellte, deutlich. Und erst mit dem Buch von Daniel Goldhagen sind die Vorgänge, die auf ewig mit dem deutschen Namen verknüpft sind, wirklich ein Gegenstand, den die gesamte Bevölkerung begreift. Allerdings wurde dann dies so überspitzt, daß man die Generation der Väter und Großväter gar nicht mehr verstand. Von der ja nach wissenschaftlichen Schätzungen etwa nur ein oder anderthalb Prozent von diesen Vorgängen gewußt hatten. Es ist also eine Überspitzung, zu sagen, die Deutschen hätten all das gewußt und nichts dagegen getan. Das haben die Deutschen nicht gewußt. Sie haben gewußt von den Grausamkeiten des Rußlandfeldzuges, aber das galt ja als ein Ringen unter Verbrechern Stalin und Hitler. Man hat aber nicht begriffen, daß dem die Idee der Auslöschung einer ganzen Nation zu Grunde lag. – Doch, die Jugend hat im Grunde dieselbe extreme Position wie die Generation, die damals in den Nationalsozialismus gestolpert war, eingenommen.

Das Geschichtsbild der Bundesrepublik wandelt sich: Die Zeit vor '68 wird von den in Ämter und Würden gekommenen Ex-APO-Aktivisten unterschwellig gern als eine Art "Faschismus ohne Hitler" hingestellt.

Siedler: Das ist natürlich eine groteske Verkennung der Situation nach 1945 und der zwei Jahrzehnte von 1949 bis 1968. Das sind extreme Positionen einiger Wortführer. Ich glaube, wenn Sie fragen, wie die Deutschen heute die Adenauer-Zeit sehen, dann werden Sie wohl allermeist recht faire Urteile hören. Wenn Sie die ernsthaften Publizisten in der Presse betrachten, dann werden solche überspitzten Vorstellungen doch verworfen. Das Problem ist eben auch hier, die lautesten Schreier werden am ehesten gehört.

Jedes Quentchen Freiheit schreibt sich heute ’68 auf die Fahnen. Hätte sich die Freiheit nicht auch ohne ’68 – wenn auch anders – entwickelt?

Siedler: Ja, natürlich. Es wäre nicht so eruptiv vor sich gegangen. Die ’68er verstellen natürlich auch Entwicklungen, die sonst möglich gewesen wären.

War ’68 unausweichlich?

Siedler: ’68 war ja eine weltweite Bewegung: Sie begann in Amerika, kam dann nach Paris und schließlich auch nach Deutschland. Natürlich war die deutsche Ausprägung besonders heftig.

Werten Sie 1968 als einen Jugendprotest oder als ernstzunehmenden Revolutionsversuch?

Siedler: Natürlich nicht. Es war jugendlicher Protest, mit zum Teil rührenden, zum Teil lächerlichen Zügen. Es war immer nur der Antrieb, der verständlich war, die Form war grotesk überspitzt.

Was halten Sie für das eigentliche Wesen von ’68: das Motiv der Freiheit, das der Unzufriedenheit, oder war es vor allem der Hedonismus?

Siedler: Zweifellos eine Mischung aus allem, aber vor allem das Gefühl das die Zustände überholt sind. Denken Sie etwa an die Universitätswelt in Deutschland, die Ordinarien-Universität – in der ich mich ja wohlgefühlt habe – war doch weit entfernt von der angelsächsischen Campus-Universität. So ging es in allen Bereichen, und der Stau führte zu einer stoßweisen Veränderung. Doch diese Radikalität hat doch viel zerstört und hat Entwicklungen gefördert, die verhängnisvoll waren.

Wie definieren Sie "Jugend"?

Siedler: Wenn ich an frühere Jugendbewegungen denke, dann sehen Sie: meist formulierten sie das Ungenügende an einer historischen Situation. Die Jugend empfindet deutlicher, was kommen wird und kommen muß. Aber darin übertreibt sie dann. Die Studentenrevolution hat, um noch einmal auf dieses Beispiel zurückzukommen, die Struktur alter Universitäten zerschlagen, doch heute sehnen sich Professoren und Studenten nach gewissen alten Strukturen zurück.

Jugend und Elterngeneration – kann sich das auch vertragen, oder ist es ein Konflikt auf alle Zeit?

Siedler: Das ist ein ewiger Konflikt. Doch nur in Krisenzeiten bricht er so verhängnisvoll auf.

Mündete die moralische Hybris des Protestes nicht bald in eine Hemmungslosigkeit, die der Gewalt Bahn brach: Ist also ’68 nicht so einfach von der Gewalt zu trennen, wie Fischer und Co. das heute gerne darstellen?

Siedler: Das scheint mir sehr zugespitzt formuliert. Ich würde es lieber so formulieren: Der berechtigte Impuls scheint mir mit den falschen Maßnahmen einhergegangen zu sein.

Der Hauptfeind der ’68er war der Bürger.Welche Rolle spielt das Bürgertum für Zivilisation und Kultur?

Siedler: Ich bin ja ein leidenschaftlicher Verteidiger der bürgerlichen Welt. Doch die bürgerliche Welt ist an ihr Ende gekommen und nicht wiederherzustellen. Wir können Museen wiedereröffnen und Kunstwerke wieder aufstellen, die bürgerliche Gesellschaft aber, die all das getragen hat, die gibt es nicht mehr. Deutschland ist eine Welt ohne Bürgertum.

Haben die ’68er nicht fahrlässig den Untergang des Bürgertums, des einzigen Kulturträgers ihrer Epoche, besiegelt?

Siedler: Nein, es wäre so oder so gekommen.

Hat man nicht gestoßen, was ...

Siedler: ... was im Fallen war. Sie haben den Niedergang befördert. Aber das war wie ein kleiner Stoß für einen rasenden Eisenbahnzug.

Wir leiden bereits seit der Dekadenz an der Auflösung des Bürgertums, und dann macht sich eine Jugendbewegung auch noch auf zu stoßen, was gefangen werden muß!?

Siedler: Das ist in der Tat absurd. Aber meine resignative Sicht der Dinge sagt mir: So ist es eben in der Welt.

Das Restbürgertum in Medien und Politik – von Ulrich Wickert bis Heiner Geißler – weist immer wieder auf die hohe Bedeutung der Kulturrevolution von 1968 hin. Sie dagegen sagen, es war nur an kleiner Schubs an einem rasenden Zug.

Siedler: Das modische Denken der Meinungsführer habe ich nie sehr ernst genommen.

Die ’68er konzipierten eine proletarisch-"demokratisch"-antiautoritäre Struktur als Nachfolgemodell zur bürgerlichen Struktur, die aber offenbar nicht einmal auf der Ebene der Wohn-Kommunen funktionierte. Das Bürgertum blieb aber abgeschafft. Zurückgelassen haben uns die ’68er in der Leere der Vermassung.

Siedler: Versprochen war die proletarische Kultur, die ist aber nie entstanden. Statt dessen kam eine egalitäre Massengesellschaft. Ich sagte aber schon, das Ende des Bürgertums wäre so oder so gekommen.

Ist1968 vielleicht nicht der erste Abschnitt unserer heutigen Zeit, sondern der letzte, die endgültige Dekadenzphase des Bürgertums? Dafür spricht, daß den heutigen Jungen 1968 fern, fremd und unverständlich ist.

Siedler: Ich weiß nicht. Betrachten Sie das Personal, das waren ja alles keine Bürger mehr – auch keine entlaufenen Bürger –, eher Außenseiter der Gesellschaft. Die darauffolgende Generation, in den siebziger Jahren, gut, das waren dann die Pfarrerskinder aus Würrtemberg und Baden. – Ich finde, Sie sind überall in der Gefahr, Ihre Fragen zu überspitzen. Seien Sie in Ihren Fragen und in den erhofften Antworten gelassener. Wissen Sie: So ist das eben.

 

Dr. Wolf Jobst Siedler Journalist, Publizist, Verleger. Geboren 1926 in Berlin, studierte er hier Soziologie, Philosophie, Geschichte und Germanistik. Von 1955 bis 1963 war er Feuilletonchef des Berliner "Tagesspiegel", ab 1963 Leiter des Propyläen-Verlages und von 1967 bis 1979 Dirtektoriumsvorsitzender der Verlagsgruppe Ullstein. Sein eigener, der Wolf Jobst Siedler Verlag, ist inzwischen an Bertelsmann übergegangen.

Wichtigste Veröffentlichungen: "Die gemordete Stadt" (1964), "Weder Maas noch Memel" (1982), "Auf der Pfaueninsel" (1986), "Wanderungen zwischen Oder und Nirgendwo" (1988), "Abschied von Preußen" (1991), "Der Verlust des alten Europa" (1996)

 

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