© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    07/01 09. Februar 2001

 
Im Dienstbotenaufgang steckengeblieben
Hartmut Jäckel: Menschen in Berlin. Das letzte Telefonbuch der alten Reichshauptstadt
Wolfgang Müller

Als Poesie gut." Diese ätzende Randbemerkung Friedrich Wilhelms III. an einem Entwurf, der Preußens Untertanen 1813 zur allgemeinen Volkserhebung gegen Napoleon aufrufen sollte, scheint zeitlos verwendbar. Und zwar für jeden Text, der sachliche Information verspricht und doch nur das Gegenteil, Poesie eben, bietet. So auch für das Buch "Menschen in Berlin", das Hartmut Jäckel, Bruder des an der Seite von Lea Rosh zu erklecklichem Ruhm gelangten Volkspädagogen Eberhard Jäckel, emeritierter Politikwissenschaftler am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin, nach "fast vierjähriger Spurensuche" präsentiert.

Jäckel hat sich zum Ziel gesetzt, "die unbegrenzte Breite des politischen und gesellschaftlichen Spektrums", das auch noch in den Jahren des Zweiten Weltkriegs in Berlin bestand, anhand des letzten, im Frühjahr 1941 veröffentlichten "Amtlichen Fernsprechbuchs für den Bezirk der Reichshauptstadt Berlin" zu vergegenwärtigen. Zu diesem Zweck, so meint er, genüge es, aus den 315.000 Namen des Telefonbuchs rund 230 mehr oder weniger Prominente herauszufischen und ihre Biographien möglichst kontrastreich in einem "Wer ist wer?" von A bis Z zu versammeln. So steht der Schriftsteller Erich Kästner neben dem Fliegergeneral Ernst Udet, der Reichstrainer Sepp Herberger neben dem Publizisten Theodor Heuss, die verfemten Expressionisten Max Pechstein und Karl Schmidt-Rottluff neben den SS-Größen Werner Best und Reinhard Höhn, die nach dem 20.Juli 1944 hingerichteten Widerstandskämpfer Wilhelm Leuschner, Nikolaus von Halem und Albrecht Haushofer neben Exponenten der NS-Justiz wie Roland Freisler und Hans Joachim Rehse.

Auf den ersten Blick scheint Jäckel damit nachzuweisen, was er ausdrücklich in Abrede stellt und was doch ursprünglich auch für ihn den Reiz solcher Rekonstruktionen ausgemacht haben dürfte: das Vorhandensein einer "pluralistisch vernetzten Gesellschaft" inmitten eines nur scheinbar totalitären Staates. In der Tat, so zeigt sich Jäckel belehrt, gebe es hinter der "illuminierten Fassade einer keinen Widerspruch duldenden Herrschaft" einen Mikrokosmos mit einer erstaunlich vielgestaltigen und geistig regsamen Innenwelt zu entdecken. Nur hätte es dafür eines Entdeckers, eines leidenschaftlichen Fährtenlesers und Spurensammlers vom Schlage Walter Kempowskis bedurft, dessen kollektives Kriegstagebuch von Anfang 1943 ("Echolot") für jedes gleichgerichtete Unterfangen unbarmherzig strenge Maßstäbe setzt.

Jäckel scheitert schon daran, daß er nur ein schmales Spektrum erfaßt. Zu viele, zumal aus den Reihen der von ihm berücksichtigten NS-Prominenz wie Alfred Rosenberg, Hans Frank oder Gottfried Feder, kennt der Leser aus den einschlägigen Lexika von Robert Wistrich oder Hermann Weiß. Gut siebzig der von Jäckel ausgewählten Personen, also ein knappes, unrepräsentatives Drittel, sind dem Widerstand, den Verfolgten oder aber dem "widerständigen" Milieu zuzurechnen. So präfiguriert diese Auswahl getreulich, was Jäckel in seinen Kurzporträts an Stereotypen zu bieten hat.

Zu beklagen sind dabei primär nicht einmal die sachlichen Fehler, die sich aus Jäckels ideologischen Präferenzen von selbst ergeben. Obwohl ihm hier wirklich peinlichste Ausrutscher anzukreiden sind. So etwa wenn er behauptet, Albrecht Haushofer habe 1933 Hitlers Machtergreifung begrüßt. Ein Blick in die Haushofer-Biographie von Ursula Laack-Michel (1974) hätte Jäckel vom Gegenteil überzeugt. Mit geringem Aufwand wäre auch zu recherchieren gewesen, daß Jochen Klepper nicht im oberschlesischen Beuthen, sondern in einem gleichnamigen Städtchen an der mittleren Oder, dem sogenannten "Kuh-Beuthen" geboren wurde. Alfred Baeumler, mit dessen Porträt Jäckel so überfordert ist wie mit dem Carl Schmitts, legte seine Bachofen-Studie 1965 unter dem Titel "Das mythische Weltalter" (statt: "Zeitalter") wieder auf. Der Verfasser des legendären Gruppenporträts über die "Comedian Harmonists" hieß Eberhard und nicht Erich Fechner. Josef Nadler, wegen katholischer Bindungen von NS-Seite attackiert, kann schlechterdings nicht als "zeitgenössischer Literaturpapst" eingestuft werden. Und der Heeresrichter Karl Sack dürfte 1938 lange gesucht haben, wenn er – wie Jäckel angibt – sich zur "Heeresgruppe A" an "die Front" hätte begeben wollen. Und das Abstruse streift die Angabe, nach 1945 hätten nur "ein knappes Dutzend" deutscher Professoren ihr politisches Engagement mit dem Verlust des Lehramtes bezahlt. Aber hier sind wir schon auf der Ebene der zahllosen Patzer, die der doch so renommierte Verlag mit Dutzenden von Druckfehlern anreichert. Lektor und Korrektor dürften bei der Betreuung dieses Manuskripts wohl um die Wette geschlafen haben.

Ausschließlich allein verantwortlich ist Jäckel jedoch dafür, daß er sich für den gesellschaftlichen "Mikrokosmos", den er zu entdecken verspricht, gar nicht interessiert. Oder wenigstens nur so weit, wie er seine westdeutsch konditionierte Perspektive nicht irritiert. Hätte er sich sonst entgehen lassen, bei einem nachmaligen "Kronjuristen" des SED-Staates wie Peter Alfons Steiniger, der im Dritten Reich als Privatlehrer über die Runden kam, zu erwähnen, daß er in Bonn, "wo er 1928 promoviert", keinen geringeren Doktorvater als Carl Schmitt vorweisen kann? Wenn man den Naturlyriker Oskar Loerke und die "halbjüdische" Bildhauerin Renée Sintenis porträtiert: Läßt man dann wirklich wie Jäckel unerwähnt, daß Loerkes Charakterbilder von 1939 ("Hausfreunde", erschienen bei S.Fischer in Berlin) ein Kapitel der verfemten Freundin und "Wächterin am Tierparadies" widmet, das ergreifend anhebt: "In den Wohnungen mancher Menschen, die einen Bezirk frischer Geistesstille in sich haben, wohinein Sonne und Nacht und die scheinbar ursachlosen Seelenerschütterungen fallen, aber nicht das seit der Vertreibung aus dem Paradiese tagende Geqäultsein und Getöse, steht das eine oder andere Bronzetier von Renée Sintenis..." In diese großbürgerlichen Wohnungen, etwa in jene des Berliner arbiter elegantiarium Freddy Horstmann und die fashionable Atmosphäre seines pied à terre am Steinplatz, hätte Jäckel, der zumeist im Dienstbotenaufgang steckenbleibt, sich schon bemühen müssen, um eine Anschauung davon zu vermitteln, wie man hinter der totalitären Fassade des NS-Staates lebte.

Jäckels Kollege Arnulf Baring hat in einer sehr rücksichtsvollen Rezension in der Welt (vom 9. Dezember 2000) bedauert, daß auch dieses Werk ihm das "historisch-politische Berlin" noch nicht nahe genug bringe. Er hofft daher, Jäckel werde seine "detektivischen Forschungen unbeirrbar fortsetzen" und in einer erweiterten Neuauflage darbieten. "Als Idee gut". Nur dürfte Jäckel mit Korrekturarbeiten dann so ausgefüllt sein, daß man das ganze Projekt lieber jemandem übertrüge, der in der Reichshauptstadt von 1941 geistig wirklich zuhause ist.

 

Hartmut Jäckel: Menschen in Berlin. Das letzte Telefonbuch der alten Reichshauptstadt 1941. DVA, Stuttgart-München 2000, 409 Seiten, 49,80 Mark


 
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