© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    07/01 09. Februar 2001

 
Selbstgespräche im Traumwald
Eine Erinnerung an die preußisch-jüdische Lyrikerin Gertrud Kolmar
Rolf Stolz

Erst die Nachgeborenen begannen, Hölderlin ergriffen zu begreifen, erst Jahrzehnte nach seinem Tod wurde Georg Büchner von Jugendbewegung und Expressionismus entdeckt und in seiner Größe erkannt. Dieses Phänomen, daß ein Dichter erst in der Zukunft, erst jenseits des eigenen Todes, ankommt bei seinem Volk, scheint auch auf Gertrud Kolmar zuzutreffen, diese deutsche Jüdin, diese jüdische Deutsche, deren Werk seitens der offiziellen Germanistik und Literaturkritik immer noch nicht in seiner epochalen Bedeutung gewürdigt wird. Es genügt festzuhalten, daß Wolfdietrich Schnurre mit seiner Bewertung "eine der größten deutschen Lyrikerinnen seit der Annette von Droste-Hülshoff" nicht übertrieben hat.

Selbst für viele ausgebildete Literaturverwerter ist Gertrud Kolmar immer noch allenfalls eine Randgestalt, die eher in Fußnoten und Zwischenbemerkungen auftaucht als in den Hauptkapiteln. Ein zentraler Grund dafür: Diese Frau sprengt die Grenzen so mancher Vorurteile und Vorerwartungen. Den Feministinnen ist sie ein Graus sowohl wegen ihrer Begeisterung für männlich-gewalttätige Helden wie die Gracchen, Robespierre, Saint-Just, Marat oder Napoleon, als auch wegen ihrer Verherrlichung einer Liebe, die sich auf einen einzigen Mann richtet und darauf, von ihm ein Kind zu empfangen. Den Frommen macht sie keine Freude mit ihrer brünstigen Inbrunst, ihren vielen eindeutig sexuellen Symbolen, ihren Zweifeln, ihren Vernichtungsängsten und ihrer allgläubigen Sehnsucht, in die Ruhe des Alls und des Nichts einzugehen, mit ihrem Haß auf die katholische Kirche und auf die von dieser geduldete Doppelmoral. Die Liberalen und die Pazifisten schreckt ihre Begeisterung für die Revolutionen, die harte jakobinische Herrschaft der Tugend. Die freigeisternden Sozialisten wiederum können nichts anfangen mit ihrer Gläubigkeit, ihrer technik- und industriefeindlichen Naturliebe, ihrer parteifeindlichen Parteinahme für die Liebenden, die einsamen Kämpfer, die Verfemten und Todgeweihten.

Ort und Datum ihres Todes sind unbekannt

Gertrud Kolmars Leben: Sie wird als Gertrud Chodziesner am 10. Dezember 1894 in Berlin geboren. Als Künstlernamen wählt sie den Namen, den die nördlich von Posen gelegene und bis 1918 zu Deutschland gehörende Kleinstadt Chodziesen (polnisch Chodziez) 1877 angenommen hat. Aus Chodziesen/Kolmar stammten die Vorfahren ihres Vaters, eines angesehenen Strafverteidigers. Von Reisen und einigen Studienwochen in Dijon abgesehen, verbringt sie fast ihr ganzes Leben im elterlichen Haushalt. Als 1930 die Mutter stirbt, bleibt sie als einziges der Geschwister bei dem Vater, der schließlich als über Achtzigjähriger nach Theresienstadt verschleppt wrd. Sie ist zu diesem Zeitpunkt schon seit längerem zur Zwangsarbeit in einer Kartonagenfabrik verpflichtet worden. Im Frühjahr 1943 wird sie selbst deportiert. Ort und Datum ihres Todes sind unbekannt.

Sehr wenig erschien zu Lebzeiten: 1917 kommen in Berlin drei Dutzend Gedichte heraus, die stilistisch noch von konventionellen Lyrismen und einer gelegentlich fast kitschigen Lied-Lieblichkeit durchsetzt sind und das Genie der Verfasserin allenfalls ahnen lassen, aber immerhin schon einige zentrale Themen in Angriff nehmen: die Fraglichkeit, das "Frauenglück" der Mutterschaft zu erleben; die große Trauer der Verlassenen und die wilde Lebensgier jener Frauen, die zu sehr lieben; die Beschwörung eines Gottes, der "den Glauben nur, nicht Religionen" kennt. 1934 erscheinen 18 Gedichte des Zyklus "Alte Stadtwappen" unter dem Titel "Preußische Wappen", 1938 in dem bald eingestampften Band "Die Frau und die Tiere" 64 Gedichte. Einige wenige Einzelgedichte werden 1930 und 1933 publiziert. Der Zyklus "Welten" kommt erst posthum 1947 heraus. 1955 erscheint – noch unvollständig – "Das lyrische Werk".

Gertrud Kolmar war nie Schriftstellerin und wollte es nie sein. Sie konnte nur als Dichterin existieren, auch wenn dies für sie Verbergen und Verborgenheit bedeutete, den Verzicht auf Öffentlichkeit und Wirkung, auf Ruhm und Respekt. Diese große Liebende, deren Liebe ihr Leben lang unerfüllt blieb, war weder imstande, ihre Person umzuwechseln in die kleine Münze literarischer Modeprodukte, noch war sie bereit und fähig, sich selbst in publizitätswirksamer Weise zu präsentieren. Auch als Frau blieb sie das stille, flüchtige, scheue, eigensinnige Mädchen – eine seltsame Heilige, eine für viele Außenstehende sicher etwas spießig und langweilig wirkende "höhere Haustochter", eine von Askese und Fanatismus angekränkelte einsame Jungfer, die sich selbst zur Schwarzen Witwe bestimmt.

Angesichts ihrer trotz zeitweiser großbürgerlicher Idylle engen und drückenden Lebensumstände wirkt die Unbedingtheit, mit der sie ihrem Werk lebte, grotesk, wirkt es befremdlich, daß sie all ihre Kraft verausgabt auf ihre Gedichte, ihren engen familiären Rahmen und auf Liebes- und Kinderwünsche, die mehr und mehr eingeholt werden von der bitteren Erkenntnis ihrer Vergeblichkeit.

In ihrem Gedicht "Die Dichterin" sagt Gertrud Kolmar in der ersten Zeile dem imaginären Leser: "Du hälst mich in den Händen ganz und gar". Diese unbedingte Hingabe, dieses Alles und alles ganz, das auch ihre Art zu lieben prägte, macht aus ihren Gedichten Bekenntnisse, Offenbarungen, Entäußerungen. Gertrud Kolmars Art, zu ihrem unbekannten Leser zu sprechen, hat wenig gemeinsam mit den Methoden, mit denen sich der Literaturproduzent an seine Leser-Kunden, an die hoffentlich treue Fan-Gemeinde, wendet. Gertrud Kolmar sucht das Zwiegespräch mit dem einzelnen – in einer Begegnung, die nicht allein ihre Bilder dem Reich der Liebe entlehnt. In "Die Dichterin" vergleicht sie die befürchtete Zurückweisung ihres Werkes mit der von ihr erlebten Zurückweisung als Frau und Geliebte. Aber zugleich ist die Hoffnung da, verstanden und angenommen zu werden. In einer ihrer wunderbar knappen und tiefen Zuspitzungen sagt sie: "Wer sollte hoffen, wenn nicht eine Frau?"

Ihre Zwischen-Stellung zwischen deutschen Traditionen und alttestamentarischem Judentum, zwischen westlicher Aufklärung und östlicher Mystik wird besonders deutlich in dem Gedicht "Der Ural". Dieses in Wirklichkeit so ungebirgige und undeutliche Grenzgebirge wird ihr zur " Scheide von West und Ost, Mauer zwischen zwei Erden". Aber auch wenn sie in dem großen Hymnus "Asien", dem Schlußgedicht der "Welten", von ihrer Heimkehr zur Mutter Asien spricht – dies ist nicht eine Literatur der Real- und Lesereisen in ferne Gefilde. So sind es in "Die Mergui-Inseln" nur die ersten vier Zeilen, in denen die realen birmesischen Inseln thematisiert werden – das eigentliche Gedicht ist eine Beschwörung einer düster-schwülen Innenwelt. Allerdings wird immer wieder deutlich, wie sehr diese Dichterin sich mit dem Osten identifziert, mit der "stummen unendlichen Geduld" Asiens, mit "Sein noch ohne Tun", wie sehr sie sich verwurzelt fühlt in einem Judentum, das "vor Rom, vor Karthago schon war" ("Die Jüdin"). Es ist daher keine spontane Abwehrreaktion angesichts des mörderisch-dummen Antisemitismus, sondern hat bei ihr, die Hebräisch lernte und sogar (verlorene) hebräische Gedichte schrieb, eine innere Logik, daß sie sich als Jüdin zum Judentum und zur "fremden verlorenen Heimat" Israel-Palästina bekannte.

So sehr Gertrud Kolmar den Wilhelminismus, die Epoche der ängstlich-aggressiven, lärmend-pompösen Großmannssucht ablehnte, so tief verbunden bleibt sie zeitlebens den preußischen Idealen Pflichterfüllung, Unbedingtheit, Tapferkeit, Klarheit, Kargheit. Diese radikal antifeudale, freiheitsliebende Frau fühlte sich einer aristokratischen Gesinnung verpflichtet, die ohne äußerliche Erhabenheit auskommt. Es ist eine seltsame Liaison, die in ihr eine vom Zionismus geprägte Begeisterung für das alte Israel der Propheten, Richter und Könige eingeht mit dieser formbestimmten Lebenshaltung, in der auch gelegentlich ein rigoroser Puritanismus durchscheint – so etwa in "Die großen Puritaner", wo sie von Moses über Savonarola, über Milton und die englichen Puritaner einen großen historischen Bogen zu den Jakobinern schlägt.

Widersprüche sind für sie geradezu konstituierend

Auch ihr Frankreich-Bild ist nicht geprägt von provenzalischer Festlichkeit und Rabelaisscher Sinnenfreude, von barockem Prunk und der spielerischen Grandeur königlicher Machtentfaltung. Was Gertrud Kolmar begeistert, ist der fast fundamentalistisch zu nennende Gewissensaufstand der Katharer und Hugenotten, der strenge jansenistische Geist von Port Royal, die düstere Selbstgewißheit des Jakobinertums, das wilde und martialische Naturell Napoleon Bonapartes, die revolutionäre Hingerissenheit der Massenerhebung, der Levée en masse. Hier liegt die Brücke zu jenem Preußentum, das in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts sich den Ideen der französischen Aufklärung öffnete und das am Anfang des neunzehnten Jahrhunderts in den Befreiungskriegen die großen Selbstbestimmungsideale der Französischen Revolution aufnahm und gegen das kaiserliche Frankreich wendete. Es ist das Preußen der Kleist und Gilly, der Scharnhorst und Gneisenau – nicht jenes militaristisch-chauvinistische Pseudo-Preußen des zweiten Wilhelm und der Deutschnationalen, aus dem noch die Nationalsozialisten am "Tag von Potsdam" propagandistischen Gewinn für sich zu schlagen wußten.

Widersprüche sind geradezu konstituierend für diese Dichterin. Schließlich war das Preußen des Jahres 1813 der Gegner jenes Napoleon, den Gertrud Kolmar so sehr bewunderte. Aber so ist sie: Auch dort, wo sie idealisiert, glättet sie nicht. So beschreibt sie Marat, eine ihrer Leitgestalten, mit rücksichtlosem Realismus: "Du Tier. Du Dreck. Du zottelndes Geschlampe". Seiner royalistisch gesonnenen Mörderin, Charlotte Corday, läßt sie nicht nur Gerechtigkeit widerfahren, indem sie die Reinheit ihrer Motive darlegt, sondern sie preist dieses Mädchen, das den Mord am Revolutionsführer als "streng erwählte Pflicht" beging, geradezu hymnisch als "Heldin, die dem Glauben starb". Andererseits folgt unmittelbar auf das Gedicht "Charlotte Corday" das "Simone Evrard" betitelte, in dem Gertrud Kolmar eindrucksvoll die Witwe Marats vor dem Konvent jedes Mitleid zurückweisen und zum Kampf gegen die aufrufen läßt, die nach Marats Tod die Freiheit ermorden wollen.

Diese Fähigkeit, Widersprüche ohne Vertuschung und kompromißlerische Glättung darzustellen, sie auszuhalten und nicht auszugleichen, ist eine der besonderen Stärken Gertrud Kolmars. Während etwa Georg Büchner in "Dantons Tod" für seinen Helden Partei ergreift und Robespierre zum Negativklischee versimplifiziert, macht sie zwar deutlich, wer ihr von den beiden näher steht, aber zugleich gelingt ihr in dem Gedicht "Danton und Robespierre" eine klarsichtige und gerechte Darstellung Dantons. Allerdings erwarte man nicht, daß bei Gertrud Kolmar Einfühlungsvermögen und Verständnis keine Grenzen hätten: Die Anhänger Héberts, deren plebejisch-proletarischer Gestus ihr ebenso fremd war wie ihr lustbetontes Brigantentum, werden in dem Gedicht "Die Hébertisten" als Verbrecher dargestellt, die ihre Vernichtung durch Robespierre verdient haben.

Gertrud Kolmar, der die von ihr so oft beschworene und idealisierte Idylle harter Arbeit in Haus und Garten, der Aufopferung für Mann und Kinder versagt (und zugleich erspart) blieb, identifiziert in dem Gedicht "Mädchen" ihr Schicksal mit dem der Rose: Einsamkeit, Hartwerden, Verwelken. Sie, die ganz für andere leben wollte und zeitweise auch lebte, gerät immer stärker in ein Selbstgespräch, angelegt auf das Ende aller Dinge hin – in eine imaginäre Auseinandersetzung mit einem erträumten Mann, einem erträumten Kind, einem selbstgeschaffenen Gott. Über die Menschen, die in der Welt des unschönen Scheins, der hektischen Aktivität, der Geldgier, der kleinen kurzen Räusche leben, sagt sie in "Die Erzieherin" mit sanfter Bitterkeit: "Mag sein, sie haben meinen Traumwald nicht/ Mit Blättern, die sich langsam müde färben,/ Und nicht die kahle Straße vorm Gesicht,/ Darauf ich täglich wandre in mein Sterben".

Scharfe Kritik am Nationalsozialismus

Ihr, die sich als "die Verlassene" fühlt, ist die Einsamkeit "wie ein wärmendes Gewand" geworden. Ihre "inneren Blicke", ihre Traumgesichte werden ihr wichtiger als das Geschehen um sie herum. Dennoch nimmt sie mit scharfer, zuweilen ätzend scharfer Kritik Stellung gegen die Haßpropaganda und die Gewaltverbrechen des Nationalsozialismus (zum Beispiel "Die jüdische Mutter" oder "Anno Domini 1933"). Aber zugleich ergreift eine Müdigkeit und Starre sie, die sie als Schmerzloswerden und Versteinerung beschreibt: "Ich habe kein Gesicht mehr. Hauch wird Stein."

Allmachtsphantasien und grenzenlose Hybris waren Gertrud Kolmar nicht fremd – aber sie münden in eine fast mystische Bescheidung und Demut. Die Schlußzeilen von "Die Fahrende" lauten: "Irgendwann wird es Zeit, still am Weiser zu stehen,/ Schmalen Vorrat zu sichten, zögernd heimzugehen,/ Nichts als Sand in den Schuhen Kommender zu sein". In dem Gedicht "Zueignung", das den Zyklus "Welten" einleitet, entwirft Gertrud Kolmar ein Gleichnis dafür, wie sie ihr Werk und dessen Wirkung sieht: Sie zeichnet mit einem Silberstift ihre Welt, eine Öde mit kahlen Gipfeln und einer bleichen Wolke. Dieses Bild mißfällt denen, die es ansehen: "Farbenlos, wesenlos ist dies, ohne Stimme; es redet zu uns nicht/ Kommt weiter".

In dem Gedicht trägt die gemalte Wolke die Malerin/Dichterin empor auf ihre Berge, wo "ein Wartender", eine mystisch-königliche Gestalt, sich vor ihr verneigt und sie begrüßt. Vielleicht ist am Anfang eines neuen Jahrhunderts die Zeit reif, um die flachen, talmibunten Sumpfregionen käuflicher und schnell verdorbener Zeitgeistliteratur hinter sich zu lassen und unter den "nackten kantig steinernen Gipfelstirnen" dieser unvergänglichen und unvergleichlichen Dichterin zu begegnen.

 

Rolf Stolz ist Publizist ("Der deutsche Komplex"). Er war Mitbegründer der Grünen.


 
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