© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    07/01 09. Februar 2001

 
Das deutsche Dilemma
von Björn Schumacher

Nicht alle Ausländer "bereichern" Deutschland so unbestreitbar, wie das – teils assimiliert, teils kulturell eigenständig – viele Millionen Juden, Hugenotten, Westslawen usw. seit Jahrhunderten tun. Mußte nicht sogar ein sozialdemokratischer Innenminister namens Otto Schily vor zwei Jahren die gleichermaßen beunruhigende wie anklagende Bilanz ziehen: "Die Grenzen erträglicher Zuwanderung sind überschritten"? Bereits 1967 hat die Vollversammlung der Vereinten Nationen zwecks Verhinderung unerwünschter Masseneinwanderungen beschlossen, daß nationale Identität und Heimatrecht dem Asylanspruch vorgehen (Artikel 3 der Resolution 2312 – XXII – vom 14.12.1967). Ubersteigerte nationale Selbstzweifel und eine fast schon juvenile Begeisterung für alles Exotische (Multikulti-Euphorie) taugen als Elemente einer verantwortungsbewußten Immigrationspolitik ebensowenig wie der aktionistische Humanitätseifer einer sich unbehaglich fühlenden Überflußgesellschaft.

Immer häufiger wird Migration am Leitfaden des Dualismus "Menschen, die uns nutzen / Menschen, die uns ausnutzen" thematisiert. Der duale Ansatz ist jedoch höchst problematisch. Er suggeriert ein Menschenbild, das sich mit christlich-naturrechtlichen und aufgeklärt-vernunftrechtlichen Gesellschaftsentwürfen kaum verträgt. Auch inhaltlich bringt er nur begrenzten Ertrag, weil nicht selten mehrere Migrationsmotive zusammenkommen und obendrein alle Arten von Zuwanderung der strikten Kontrolle und Begrenzung bedürfen. Das deutsche Volk als Souverän wünscht mehrheitlich keinen Zuwachs an Nicht-EU-Ausländern. Die folgende Skizze beleuchtet Zuwanderungen aufgrund einer Notlage des Migranten, nach bedarfsorientierter Anwerbung durch Wirtschaft bzw. Staat und durch nachreisende Familienangehörige.

Kein überzeugter Vertreter der Menschenrechte, kein Humanist im eigentlichen Sinne des Wortes wird bedauernswerte Menschen abweisen wollen, die hierzulande Zuflucht in einer Notlage suchen: Zuflucht vor Krieg, Bürgerkrieg, echter politischer Verfolgung, Hungersnöten und Naturkatastrophen. Hierfür bedarf es aber keiner subjektiven Rechte mit Verfassungsrang. An die Stelle des individuellen Grundrechts auf Asyl, Art. 16 a Grundgesetz (GG), könnte beispielsweise eine institutionelle Garantie mit konkreter Ausgestaltung im einfachen Gesetzesrecht treten. Sie würde zwar die Rechtsweggarantie (Art. 19 Abs. 4 GG) im Asylverfahren nicht automatisch beseitigen, weil und soweit sich subjektive Rechte im Sinne dieser Norm auch aus institutionellen Garantien herleiten lassen. Gleichwohl dürfte eine institutionelle Garantie zahlreiche Asylverfahren durch Verkürzungen des Instanzenzuges enorm beschleunigen: zum einen durch den regelmäßigen Wegfall von Verfassungsbeschwerden und zum anderen durch wachsende rechtliche Spielräume bei der Versagung von Berufungsmöglichkeiten.

Außerdem wäre eine Begrenzung der Asylbewerberzahl mit einer institutionellen Garantie leichter zu vereinbaren als mit dem Grundrecht des Art. 16 a GG. Die Begrenzung könnte die Gestalt einer "Asyl- und Notlagenquote" unter dem Dach einer ebenfalls konkret bezifferten Höchstzuwanderung annehmen, die ihrerseits in etwa der mutmaßlichen Zahl von Abwanderern desselben Zeitraums (zum Beispiel ein Kalenderjahr) entsprechen sollte. Bei unvorhergesehenen, schlichtweg unerträglichen Notsituationen sollten freilich "Quotenverschiebungen" erfolgen (Beispiel: mehr Elendsflüchtlinge, dafür weniger Familiennachzug – gegebenenfalls unter Einbeziehung des nächsten Quotierungszeitraums).

Auch auf internationaler Ebene besteht Reformbedarf. Sachgerechte Modifikationen der Genfer Flüchtlings- und Europäischen Menschenrechtskonvention, speziell mit dem Ziel der konsequenten Abschiebung abgelehnter Asylbewerber, dürfen nicht länger tabuisiert werden. Und natürlich müssen die EU-Staaten sich künftig auf eine gerechte Verteilung von Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlingen verständigen. Ein zweites Bosnien darf es auch in dieser Hinsicht nicht geben. Generell gilt: Die Gewährung auf Dauer angelegter Aufenthaltsrechte ist rechtsethisch nur in Ausnahmefällen zwingend.

Primär sollte die Einwanderung vom sorgfältig abgewogenen Bedarf der Bundesrepublik Deutschland abhängig gemacht werden. Mannigfaltige Aspekte der Demographie, Ökologie, Ökonomie und inneren Sicherheit, des Soziales, aber auch Kultur und nationales Selbstverständnis bedürfen der eingehenden Prüfung und Gewichtung in einem offenen demokratischen Diskurs. "Arithmetisch korrekte" Milchmädchenrechnungen von Wirtschafts- und Rentenexperten, die den quantifizierbaren Schwund des deutschen Volkes durch jahrzehntelange Zuwanderung in annähernd gleicher Höhe kompensieren wollen, sind mit Nachdruck zurückzuweisen – erst recht in einem Land mit massiver Arbeitslosigkeit, spürbarer Ubervölkerung und bis auf weiteres begrenzter Integrationskraft, die ihrerseits Folge der verfehlten Massenzuwanderung sogenannter "Wirtschaftsflüchtlinge" ist.

Derartige Lösungsvorschläge entspringen dem Goldrausch eines traditionsfeindlichen, strikt ökonomistischen Globalisierungskults. Sie erinnern an den weltfremden Enthusiasmus, der den Zuzug von Gastarbeitern in den sechziger Jahren begleitet hat. Das Ergebnis ist bekannt: Man rief nach Arbeitskräften, doch es kamen Menschen – fremde Menschen mit anderen Sitten, Idealen und Lebensgewohnheiten. Und bis heute bilden sie mit den einheimischen Menschen nicht jene harmonische Wertegemeinschaft im Sinne einer "Zivilgesellschaft", wie sie auch von Verfechtern multikultureller Gesellschaftsformen zunehmend vermißt wird (was den Verdacht nährt, daß sich hinter der Sehnsucht nach Multikultur weniger kulturelle als vielmehr ethnische Motive verbergen, nämlich ein Rassismus von links mit abartiger Lust an der "ethnischen Verdünnung" des einer vermeintlich bösen Rasse angehörenden deutschen Volkes – neue ideologische Herausforderung für die am Sieg der sozialen Marktwirtschaft verzweifelnde Linke, die nunmehr den "Klassenkampf" gegen das gesamte Volk sucht).

Wenn die "demographische Lücke" wieder halbwegs aufgefüllt werden soll, dann langfristig durch kontinuierlich steigende Geburtenzahlen. Gefordert sind die Schaffung bedarfsgerechter Arbeitsplätze für berufstätige Mütter sowie eine entschieden kinderfreundliche Sozial- und Steuerpolitik. Die Umwandlung des Ehegatten- in ein die Zahl der Kinder einbeziehendes Familiensplitting drängt sich geradezu auf; über eine Kürzung von Rentenansprüchen kinderloser Doppelverdiener sollte zumindest nachgedacht werden. Bei aller amüsanten Simplifizierung liegt hier auch die unabweisbare Essenz der Rüttgerschen Formel "Kinder statt Inder". Rüttgers’ Postulat läßt sich mit Blick auf den Wirtschaftsstandort Deutschland dahin fortschreiben, daß eine mittels Quote begrenzte Zahl unentbehrlicher Fachkräfte aus Nicht-EU-Staaten durchaus in unserem Land aufgenommen werden sollte – allerdings nur mit (regelmäßig) befristetem Aufenthaltsrecht und auch nur so lange, wie ausbildungs- und umschulungsfähige "Kinder" deutscher oder wenigstens EU-interner Abstammung fehlen (modifiziertes "Green-Card"-Modell). Wobei die bislang vernachlässigte Frage erlaubt sein muß, ob sich überhaupt genügend interessierte und für den hiesigen Bedarf qualifizierte "Inder" finden.

Aktive Familienpolitik ist freilich kein Heilmittel gegen die kurzfristigen Nachteile des Bevölkerungsschwundes, die sich durch spürbaren Anstieg der Lebenserwartung zusätzlich verstärken. An schmerzhaften Einschnitten in das soziale Netz, vielleicht auch an einer Verlängerung der Arbeitszeiten wird unser Land kaum vorbeikommen. Diese Nachteile freilich würden sich selbst durch eine strikt vom wirtschaftlichen Bedarf geleitete Netto-Zuwanderung nicht vermeiden, sondern allenfalls abmildern lassen. Verfechter einer solchen Lösung können also höchstens folgende Formel präsentieren: mehr Zuwanderung – (etwas) weniger Sozialabbau. Die genauen Proportionen bleiben ungewiß. Damit aber kann die nationale Frage sich nicht allein im ökonomischen, sie muß sich auch im wertphilosophischen Gewand stellen: Sollte uns Deutschlands Identität, Quell der Geborgenheit für Abermillionen Menschen, nicht den Verzicht auf etwas "Lebensqualität" wert sein?

Zu den zentralen Aufgaben der Einwanderungskontrolle werden wir daher den Schutz deutscher Identität rechnen müssen: die Bewahrung, allenfalls behutsame Modifizierung der historisch gewachsenen, im großen und ganzen homogenen ethnokulturellen Struktur unserer Bevölkerung.

Strenge rechtliche Maßstäbe müssen deshalb auch für den Familiennachzug der Nicht-EU-Ausländer entwickelt werden. So sehr jedem einzelnen die Nähe seiner Angehörigen wünschen ist, so selbstverständlich sollte es andererseits doch sein, daß auseinandergerissene Familien regelmäßig in ihrem Herkunftsland vereinigt werden. Ausnahmen mögen bei gesichertem Asylstatus gelten oder etwa dann, wenn der Aufenthalt des Nicht-EU-Ausländers in Deutschland dem berechtigten Interesse der Bundesrepublik entspricht. Nichtsdestotrotz wird eine niedrige Nachzugsquote innerhalb einer ohnehin begrenzten Gesamtzuwanderung unvermeidlich sein. Internationalistische Anmaßungen wie der aktuelle "Richtlinienvorschlag" des portugiesischen EU-Kommissars Vitorino, dessen Umsetzung die Immigrantenzahl rasant emporschnellen lassen würde, sind entschieden zurückzuweisen.

Im nationalen Recht bedürfen vordringlich die Paragraphen 17, 18 Ausländergesetz der Korrektur. Sie ermöglichen den Ehegattennachzug meist sogar dann, wenn der hier lebende Nicht-EU-Ausländer einen Menschen aus seiner Heimat heiratet und die eheliche Gemeinschaft ohne Schwierigkeiten im gemeinsamen Herkunftsland aufgenommen werden könnte. Diese Nachzugsvariante kommt vornehmlich hierzulande geborenen oder als Minderjährigen eingereisten Ausländern zugute. Ins Blickfeld rücken traditionalistisch erzogene Deutsch-Türken (insbesondere männlichen Geschlechtes). Auffallend häufig heiraten sie keine Deutsche oder ebenfalls hier ansässige Türkin. Sie holen sich statt dessen eine mit der deutschen Sprache nicht vertraute, abseits westlicher Gesellschafts- und Verhaltensmuster aufgewachsene Frau aus der Türkei. Der von den meisten Volksvertretern gepriesene Integrationsgedanke offenbart nicht nur hier die Schranken seiner Tauglichkeit.

Nach wie vor mangelt es an kritischen Analysen des unscharfen Integrationsbegriffs, die auch dessen Abgrenzung zur Assimilation umfassen müßten. Faktisch kommt jene Unschärfe den Multikulti-Sehnsüchten des linken Spektrums entgegen. Sie fördert dessen Tendenz, Ausländer bereits dann für "integriert" zu erklären, wenn sie ein paar Brocken Deutsch verstehen und keine Straftaten verüben. Eine solche Klassifizierung hilft jedoch niemandem, auch nicht den Ausländern, die im wohlverstandenen Eigeninteresse erhebliche Anpassungsleistungen erbringen sollten.

Zwar darf unter dem Etikett der Integration nicht in rechtlich geschützte Positionen eingegriffen werden. So darf der Zuwanderer weder zum Hören einheimischer Radiosender noch zur vertieften Lektüre deutscher Dichterfürsten verpflichtet werden, ebenfalls nicht zur Teilnahme an abendländischen Riten oder gar zum Eintritt in eine christliche Religionsgemeinschaft. Die Grundrechte des Art. 2 Abs. 1 GG (Freie Entfaltung der Persönlichkeit) beziehungsweise Art. 4 Abs. 1 GG (Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit) – beide ihrer Natur nach unveräußerliche Menschenrechte - verhindern das.

Gleichwohl erfordert sinnvoll verstandene Integration wenigstens sechserlei. Erstens: gute deutsche Sprachkenntnisse, zweitens: die uneingeschränkte Akzeptanz elementarer Verfassungsmaximen wie Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit einschließlich der ihren Schutz verbürgenden Staatsziele Demokratie, Rechts- und Sozialstaat, drittens; ausreichende Informationen über deutsche (und europäische) Geschichte und Kultur, sowie – daran anknüpfend – viertens; die vorbehaltlose Respektierung (nicht notwendig Ubernahme) aller christlichen, ethischen, ästhetischen Grundwerte Mitteleuropas, fünftens: die Beachtung deutscher Konventionen im Umgang mit der angestammten Bevölkerung und sechstens: die fortschreitende Identifikation mit dem deutschen Adoptiv-Vaterland.

Anders gewendet: Der Ausländer muß die abendländische Zivilisation in ihrer besonderen deutschen Ausprägung als Leitkultur anerkennen. Der Kulturbegriff sollte hier als Gesamtheit aller Schöpfungen des Geistes verstanden werden, die gesellschaftlich relevantes Verhalten beeinflussen. Abwegigen Spekulationen und Mäkeleien nationalneurotischer Kritiker zum Trotz bedeutet "deutsche" Kultur: vom deutschen Volk entweder geschaffen oder als angemessener Ausdruck eigener Empfindungen aus einem fremden Wirkungskreis adaptiert. Der kulturelle Führungsanspruch verhält sich ambivalent. Er ist absolut, wo es um fundamentale Errungenschaften unserer gemeinsamen, von deutschen Beiträgen mitgestalteten abendländischen Kultur geht (und verweist insoweit auf die allgemeine Hegemonie-Debatte zwischen den Kulturen). Und er ist relativ, d. h. beschränkt auf das soziale Leben in Deutschland, soweit die spezifisch deutsche Ausprägung der Leitkultur in den Vordergrund rückt. Zur Durchsetzung dieses Modells sollten die tragenden Integrationsmerkmale, zumindest Sprachkompetenz und Verfassungstreue, im Ausländerrecht verankert und ihr offensichtliches Fehlen angemessen sanktioniert werden (zum Beispiel durch restriktivere Fassungen der Paragraphen 24 und 27 Ausländergesetz, in denen es um die Erteilung einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis bzw. einer Aufenthaltsberechtigung geht).

Leider sind derartige Überlegungen zu einem tragfähigen Integrationskonzept noch keinesfalls Allgemeingut. Statt dessen kämpfte die deutsche Regierung – teilweise erfolgreich – für ein pseudoliberales Staatsangehörigkeitsrecht mit massenhaften Einbürgerungen und doppelten Staatsbürgerschaften. Wo bleiben die Bundespolitiker, die sich solcher Narretei widersetzen? Wo die Volksvertreter, die fremden Staatsangehörigen mit unüberbrückbarer Abneigung gegen Toleranz, Gleichberechtigung und die freiheitlichen Prinzipien der Aufklärung eine Rückkehr in die angestammte Heimat nahelegen (also beispielsweise Muslimen, die ihre Kinder unbeirrt in Koranschulen des Herkunftslandes schicken)? Ein derartiger Appell würde auch der schwierigen soziokulturellen Lage dieser Menschen Rechnung tragen. Er wäre zudem die natürliche Ergänzung zur Mahnung unseres Bundespräsidenten, sich durch Erlernen der deutschen Sprache stärker einzugliedern. Was ist überhaupt aus der einst so vollmundig propagierten "Förderung der Rückkehrbereitschaft" geworden? Wann kommen Parlamentarier, die nach den Kürzungen im Asylbewerberleistungsgesetz die Anreize zum alimentierten Verbleib in Deutschland weiter verringern?

 

Dr. Björn Schumacher ist Jurist und hat mit einer Arbeit über den Rechtsphilosophen und sozialdemokratischen Reichsjustizminister Gustav Radbruch (1878–1949) promoviert.


 
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