© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    09/01 23. Februar 2001

 
Die Unauslöschlichkeit des Mythos
Tagung: Das Institut für Staatspolitik veranstaltete seine erste Winterakademie
Wolfgang Saur

Das Institut für Staatspolitik existiert erst wenige Monate, und dennoch hat es bereits Bemerkenswertes geleistet. Gerade hat in Thüringen die erste Winterakademie stattgefunden und hat für die akademische Arbeit – an der Universität vorbei –Maßstäbe gesetzt. Etwa 30 Teilnehmer waren angereist, um gemeinsam mit den sechs Dozenten in den Tagen vom 15. bis 18. Februar auf dem Grund eines ehemaligen Klosters das komplexe Problem des Mythos und der Mythen zu erkunden. Als Spiritus Rector der Unternehmung fiel dem Historiker Karlheinz Weißmann eine zentrale Rolle zu, durch die Abfolge der zehn durchweg engagierten, bisweilen erstaunlichen Vorträge und der sich anschließenden intensiven Diskussionen führte mit Energie und Umsicht Götz Kubitschek.

Die Vorurteile gegenüber dem Mythos sind uralt. Sie setzten bereits im Rahmen der griechischen Kultur, und zwar in der Homer-Exegese des 6. vorchristlichen Jahrhunderts ein. Diese Entmythologisierung hat dann das Christentum aufgegriffen und der Rationalismus der Aufklärung schließlich vollendet. Wenn gleichwohl die mythische Tiefenschicht im Menschen und die Fortexistenz mythischer Urbilder nicht abgeschafft werden konnte, so verweist das auch auf eine spezifische Ignoranz dieses ideologiegeschichtlichen Vorgangs. Trägt man die Klischees zusammen, zeichnen sich in der Hauptsache vier stereotypische Mißverständnisse ab: Die projektionstheoretische und allegorisierende Fehldeutung will nichts anderes als eine bloße Personifikation menschlicher Eigenschaften oder der Naturkräfte in Gestalt der Götter erkennen. Wird ein Staatsmann seiner Verdienste wegen als Heros verkultet, erhält er "göttliche" Züge. Schließlich war schon in der Antike die Rückführung der Mythen auf die dichterischere Phantasie des Menschen, ihre Abwertung zu bloßer Literatur also, beliebt.

Erst seit den Pionierleistungen der frühen Orientalisten und der deutschen Romantik wurde nach und nach eine Rekonstruktion des Mythos möglich. Die Romantik überwand den Reduktionismus der Aufklärer vor allem auf drei semantischen Feldern, die einen systematischen Zusammenhang bilden. Diese sind: der Symbolbegriff, die Religion und der Mythos.

Als konstitutiv für eine Transformation des Welt- und Menschenbildes erweist sich dabei der Symbolbegriff. Im Unterschied zum rein rationalen, begrifflichen, konventionellen Charakter des Zeichens statuiert das Symbol eine Identität von Wesen und Erscheinung, ist als eine ganzheitliche Strategie in der Auslegung des Lebens und seiner menschlichen Sinndeutung anzusprechen. Symbole begründen als Elementarbausteine eine universelle, nicht-diskursive, bildhafte Sprache, die, quer zur historischen Entwicklung, sich durch alle Zeiten, Räume und Kulturen zieht. Aggregieren sich Symbole zu komplexen Struktureinheiten, liegt ein Mythos vor. Mythen ihrerseits sind ein Bestandteil religiöser Systeme weltweit. Phänomenologisch gilt es dabei, eine prinzipielle Mehrdimensionalität des Religiösen vorauszusetzen: Ritus, Mythos, Ethos, Lehre, Institution und Vergemeinschaftung, persönliche Erfahrungsdimension und schließlich Ästhetik sind aufweisbar als die grundlegenden Aspekte des Religiösen überhaupt.

Einige geniale Denker haben seitdem einem Neuverständnis des Mythos die Bahn gebrochen. Emile Durkheim erkannte vor allem die soziale Integration und kulturelle Stabilisierung durch mythische Weltbilder, kurz: die Religion als Chiffre der Gemeinschaft. C.G. Jung entdeckte die individuelle Psyche als Einfallstor für ursprüngliche Bilder und Muster, die er, den platonischen Ideen vergleichbar, Archetypen nannte. Ernst Cassirer beendete die alte Abwertung nichtwissenschaftlicher Erkenntnisformen durch seine universelle Symboltheorie. Die symbolischen Formen wie Kunst, Wissenschaft, Mythos, Technik usw. sind prinzipiell gleichberechtigt und funktionieren ihrer unterschiedlichen Logik nach als paradigmatische Medien der Welterschließung. Des Menschen Aufgabe als eines kulturellen Konstukteurs ist es, die Wirklichkeit als einen Bedeutungskosmos überhaupt erst zu erschaffen. Walter F. Otto zeigte den Mythos als Wahrheitsgeschehen auf, das sich in der lebendigen Gestalt der Götter erfüllt.

Mythen stellen sich also dar als authentische Erscheinungsformen des Absoluten, Modalitäten des Heiligen, Verwandlungen Gottes und Masken der Götter, deren Offenbarung jedoch einer spezifischen Aufnahme- und Deutungsfähigkeit des Menschen bedarf. Ihrem transempirischen Charkter und ewigen Gehalt entsprechend, sind sie der raum-zeitlichen Verfasstheit enthoben, realisieren sich in zyklischer Strukturform. Gleich den platonischen Ideen sind sie durch einen ontologischen Statusunterschied von der normalen Erfahrungswirklichkeit, die sie vertikal brechen, unterschieden. Das erklärt auch die kryptische Fortexistenz der Mythen nach dem Fall der objektiven mythischen Weltbilder der Vergangenheit.

Die Tagung versuchte nun Stück für Stück das Phänomen Mythos definitorisch einzukreisen, wobei jeder der Referenten aus seinem besonderen Blickwinkel wichtige Aspekte beizusteuern vermochte.

Die Einführung in den Problemkreis unternahm am ersten Abend Karlheinz Weißmann, der die Rezeptionsgeschichte der neusten Zeit zusammenfaßte. Er machte auch den Zusammenhang von Kulturkritik und Mythensuche deutlich, also von Unbehagen in der Modernität und der Sehnsucht nach Wiederverzauberung. Es zeigte sich dadurch auch ein ideologiepolitischer Aspekt, der geeignet ist, Konfliktstoff zu liefern, wie die Bereitschaft der Linken, alternative Denkformen und Existenzweisen als "gefährlichen Irrationalismus" zu bekämpfen, seit langem beweist. Nicht zu überzeugen vermochte seine These, bereits das Christentum habe die mythische Weltschau gebrochen, weil es mit seiner linearen Zeitorientierung die zyklische Modalität der Mythen konterkarierte. Dem ist die universale Konzeption einer, im kosmischen Christus-Ereignis zentrierten und von der Schöpfung auf das Eschaton zuschreitenden Heilsgeschichte als spezifisch christlicher Weltmythos entgegenzuhalten.

Es folgte die Würdigung zweier großer Religionsforscher am nächsten Vormittag. Die Rede ist von Georges Dumézil (1898–1986) und Mircea Eliade (1907–1986), die durch Walter Seitter und Karlheinz Weißmann vorgestellt wurden. Im Zentrum des ersten Vortrages stand die Analyse der berühmten Dumézilschen Entdeckung der sogenannten Trifunktionalität. Der bedeutende französiche Sprachforscher hatte durch strukturvergleichende Untersuchungen die "Ideologie der drei Funktionen" – Souveränität, Krieg und Verteidigung, sowie Reproduktion – als ein natürliches, die Realität gliederndes Modell bei allen idoeuropäischen Völkern erkannt. Nebenbei bemerkt, ist diese grundlegende Struktur in der christlichen Gestalt des trinitarischen Mysteriums in der deutschen Tradition seit Jakob Böhme der spekulativen Rekonstruktion des göttlichen Weltprozesses als inhärente Logik zu Grunde gelegt worden.

Auch Eliade gehörte zu den Strukturalisten. Karlheinz Weißmann hatte sich publizistisch schon früher wiederholt dem großen Rumänen zugewandt. Kompetent stellt er jetzt nicht nur die Grundzüge von Eliades Mythosbegriff und seiner Hermeneutik des Heiligen dar, sondern arbeitete auch den nicht uninteressanten zeitgeschichtlichen Hintergrund Codreanus und der Eisernen Garde im Rumänien der Zwischenkriegszeit heraus.

Schon hier entspann sich in der Diskussion eine Thematisierung des Gegensatzes von Geschichte und Mythos, der sich bis zum Ende auch durch die nachfolgenden Gespräche ziehen sollte. In der Tat bildet die äußerst negative Wertung des Geschichtlichen ein düsteres Motiv im gesamten Werk Eliades. Dessen Rede vom "Schrecken der Geschichte" ist zunächst motiviert durch die katastrophischen Zeiterfahrungen dieser Generation. Dann jedoch sieht er den modernen westlichen Menschen den Bedingungen kontingenter Welterfahrung verfallen, was etwa im Positivismus seinen wissenschaftlichen Ausdruck findet. Dem setzt er den Anruf der Ewigkeit durch den Mythos oder die orientalischen soteriologischen Techniken entgegen.

Diese Dichotomie von Werden und Sein erhielt noch durch den Auftritt eines jungen Mannes von beträchtlichem Selbstbewußtsein, Alexander Barti, eine weitere Zuspitzung. Er sprach mit apodiktischer Pointierung über die Hermetisten der Tradition und den "Mythos vom Niedergang", wobei Julius Evolas wirklicher Geschichtshaß zentraler Diskussionsgegenstand war. Zurecht wurde die undeutsche starre, undialektische Entgegensetzung von zeitlicher Entwicklung und immerwährender Wahrheit kritisch angemerkt. Der Reichtum des historischen Denkens hatte sich in Deutschland seit Hamann und Herder als Alternativbewegung zum rigorosen Normativismus des naturrechtlichen Denkens der westlichen Aufklärung gebildet und im Individualprinzip die Selbstexplikation der absoluten Wahrheit in der Zeit aufgezeigt.

Mythen sind Ursprungserzählungen, die darlegen, wie die Götter, die Welt und der Mensch geworden sind. Sie statuieren die Heiligkeit der Anfänge und für alles Empirische ein himmlisches Modell. Die Reaktualisierung eines Mythos gibt dem Menschen Gelegenheit, in einen heiligen Raum und eine heilige Zeit wieder einzutreten. Das geschieht, indem der Mythos erzählt oder aber performativ realisiert wird im Kult. Fundamental ist dabei seine narrative Logik. Diese wurde eingehend thematisiert in den Darlegungen zur griechischen Mythologie und attischen Tragödie bei Reinhard Falter und Ulrich Riemer. Die exemplarische Analyse der Phänomene "Nacherzählung", "Umwertung" und "Niedergang" der Mythen enthüllte einiges von der Logik, nach der der Mythos "funktioniert".

Etwas von seiner individuellen Erfahrbarkeit erfuhren die Seminar-Teilnehmer auf ihrem Besuch in Naumburg, der bis in den dortigen Dom und vor die berühmten Stifterfiguren führte. Der schwer greifbare und doch bis heute wirksame "Mythos um Uta" macht exemplarisch etwas vom Enigmatischen des Mythischen erlebbar. Fernsüchtig sieht Uta "fragend ins Weite, ins Unbekannte, wo das Schicksal und das Wunder aufsteigt, ‚die Träume wandelnd gehen’ und die Gnade Gottes wartet". (Gertrud Bäumer)

Eindrucksvoll trug schließlich Michael Pietschmann einen weiteren deutschen Mythos, den um Friedrich II. von Hohenstaufen, aus der Sichtweise des George-Kreises vor. Dessen eschatologischer Reichsutopie vom "Geheimen Deutschland" verpflichtet, schuf der jüdische Historiker Ernst Kantorowicz 1927 seine große Monographie über den legendären Stauferkaiser. Durch eine Ontologisierung der Rezeptionsgeschichte zeigte sich den Gelehrten des George-Kreises die geschichtliche Wirkungsmacht als eine Modalität des Mythos selbst. Das "Deutsche und Hellenische" als lebendige Synthese zu verwirklichen, galt dem Referenten als ewige, immer wieder zu erneuernde deutsche Aufgabe: "Apollon lehnt geheim an Baldur..." (Stefan George)

Ein säkularer Sinn der Mythos, nämlich als sozialer oder politischer und ein Bewußtsein von dessen möglicher kollektiver Funktion kam seit der Renaissance allmählich ans Licht. Diesem historischen Vorgang und den Sakralisierungen der Moderne widmete Karlheinz Weißmann seine fulminanten Überlegungen am Schluß des Symposions. Geoges Sorel war es schließlich, der wie kein anderer die Bedeutung von Mythen als begeisternde Energien für die Identitätsbildung im politischen Kampf ("Nation", "Generalstreik" usw.) klar erkannt hat. In der "Mythenpolitik" der Gegenwart findet auch ein "Konkurrenzkampf" der mythischen Projekte untereinander statt. Weißmanns Worte mündeten in einen Appell von der "Notwendigkeit eines nationalen Mythos". Den wir haben, handelt von Schuld und ewiger Sühne. Wird uns die ominöse mythische Erzählung von der "deutschen Daseinsverfehlung" mit ihrer Lebensfeindlichkeit erdrücken, oder uns noch einmal die Gestaltung einer positiven Weltauslegung im ganzen möglich werden?


 
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