© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    10/01 02. März 2001

 
Reiter der Apokalypse
Tierseuchen: Die industrielle Landwirtschaft erreicht ihre Grenzen
Volker Kempf

Die Agrarwirtschaft in Deutschland und Europa war in den fünfziger Jahren darauf ausgerichtet, die Versorgung des Volkes mit Fleisch auf die sprichwörtlich eigenen Beine zu stellen. "Produktionssteigerung durch Intensivierung" lautete die vielversprechende Formel. Das Wirtschaftswunder bescherte dann auch den Wohlstand für alle. Doch damit nicht genug, wurde das Wirtschaftswachstum bald, nämlich 1967, von allen im Bundestag vertretenen Parteien per "Stabilitätsgesetz" zum Selbstzweck erklärt.

Fortschrittsgläubig galt das größte Glück der größten Zahl, wie denn auch seinerzeit die Häuser in den Himmel wuchsen. Von einem solchen Denken hielt schon der "Vater des Wirtschaftswunders", Ludwig Erhard, nicht viel. In seinem 1972 zusammen mit Alfred Müller-Armack herausgegebenen Buch "Soziale Marktwirtschaft – Ordnung der Zukunft" schrieb Erhard: "Es ist ökonomisch höchst naiv, die Meßziffer für das Wirtschaftswachstum, die reale Veränderungsrate des Bruttosozialprodukts, in irgendeiner Weise mit der Vorstellung zusammenzubringen, daß die ’kollektive Wohlfahrt‘ gesteigert werde."

Es waren die bodenständigen Österreicher, die für die Landwirtschaft erkannt hatten, daß es nicht viel bringt, Masse statt Klasse zu produzieren; sie führten entsprechend eine Fördergrenze von 90 Rindern pro Betrieb ein. Doch mit dem Eintritt in die EU 1995 mußten die Österreicher ihre Regelung wieder absetzen. Die Vorreiterrolle der Alpenrepublik in der Landwirtschaft, was den Vorrang der Klasse gegenüber der Produktion von Masse anbelangt, wurde damit beendet.

In der EU und der Bundesregierung beginnt man sich notgedrungen aber allmählich zu besinnen. Anstoß war zur Jahreswende die Rinderseuche BSE, geht sie schließlich darauf zurück, daß aus reinen Effizienzerwägungen heraus Pflanzenfressern Tiermehl zum Fraß vorgeworfen wurde. Damit nicht genug, folgte dieses Jahr der Schweinemastskandal. Ursache ist auch hier die Suche nach der nächstbilligen Möglichkeit zur Mehrung der Fleischproduktion. Das war in diesem Fall der Einsatz von Antibiotika in hohen Mengen bei Tieren, die wegen der streßreichen Intensivhaltung mit geschwächtem Immunsystem für uns ihr Dasein fristen.

Als wolle die Natur den rechnenden Geistern einmal so richtig zeigen, was herauskommt, wenn man die Rechnung ohne den Wirt macht, bricht in Großbritannien auch noch die Maul- und Klauenseuche aus. Wieder müssen mehrere tausend Tiere notgeschlachtet werden; sogar das Land Nordrhein-Westfalen ließ 1.500 Schafe töten. Gewiß gab es die letztgenannte Seuche, die Huftiere, nicht aber Menschen befällt, auch schon vor 100 Jahren. Fakt ist jedoch, daß Tiere, deren Immunsystem geschwächt ist, anfällig für Infektionen sind. So erklärt Norbert Browy vom Forschungsinstitut für Biologie landwirtschaftlicher Nutztiere: "Wer Seuchen vorbeugen will, der muß vor allem dafür sorgen, daß die Tiere wirklich gesund sind."

Die Intensivlandwirtschaft ist also eine zentrale Ursache für krankheitsanfällige Tiere. Deshalb wird man auf eine extensive Landwirtschaft umstellen müssen. Das erkennt jetzt auch die Bundesregierung. Ergebnis dessen ist, daß sich die Verbraucherschutz- und Landwirtschaftsministerin Renate Künast (Bündnis ’90/ Die Grünen) auf der Krisensitzung der Agrarminister für eine neue agrarpolitische Leitlinie stark gemacht hat, wie sie derjenigen des in Düsseldorf beheimateten "Politischen Arbeitskreises für Tierrechte in Europa" (PAKT e.V.) entspricht.

Hiernach sind Prämien nicht mehr nach Quantitäten, also nach der Menge erzeugten Fleisches beziehungsweise der Anzahl der Tiere, sondern eben nach Qualität zu bezahlen. Das soll dadurch geschehen, daß nur noch nach der für ein Tier zur Verfügung stehenden Fläche Subventionen gezahlt werden. Je größer die Fläche innerhalb und außerhalb des Stalles und pro Tier gerechnet ist, desto höher fallen die Subventionen aus. Für die Umstellung eines Betriebes auf artgemäße und umweltschonende Tierhaltung sind zudem angemessene Prämien zu gewähren. Denn eines der größten Probleme bei der Umstellung landwirtschaftlicher Betriebe ist, daß über drei Jahre lang die Tiere artgemäß und umweltgerecht gehalten werden müssen, ehe das Fleisch entsprechend als Biofleisch mit höherem Marktwert verkauft werden kann. Das treibt viele Betriebe entweder in den Ruin oder zurück in die konventionelle Landwirtschaft.

Wenn sich die Bundesregierung mit der Umstellung der massebezogenen Agrarsubventionen auf die Förderung von Qualität in der EU letztlich durchsetzt, so wäre das durchaus ein Fortschritt, der diese Bezeichnung verdient. Doch wo rein quantitativ weniger produziert werden soll, muß man schon einen Verstoß gegen das sogenannte Stabilitätsgesetz sehen, das das Wirtschaftswachstum zum Staatsziel und damit zu einem vernünftigen Grund erklärt, so unvernünftig das sein mag. Das hebelt noch immer jeden Tierschutz aus, weil Tieren laut Gesetzeslage Leid zugefügt werden kann, wenn eben nur ein "vernünftiger Grund" dafür vorliegt.

Als erstes wäre also das Stabilitätsgesetz aus den sechziger Jahren, dem schon Ludwig Erhard distanziert gegenüberstand, abzuschaffen. Damit würde man Abschied nehmen von einem Zeitgeist, welcher in der Agrarpolitik zum Desaster führte. Die Vernunft würde wieder vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Und damit das Recht der Tiere, dessen Durchsetzung letztlich auch den Verbrauchern zugute kommt, nicht Zeitgeisterscheinungen, die sich in der Gesetzgebung niederschlagen, zum Opfer fällt, gehört der Tierschutz als Staatsziel in das Grundgesetz aufgenommen. Daß dies letztes Jahr zum dritten Mal in Folge an den Stimmen der Unionsparteien im Bundestag scheiterte, weil sie offenbar nichts als Wirtschaftswachstum im Sinne haben, zeigt nur, wie sehr sie Ludwig Erhard verraten haben.

Kritische Stimmen verkünden derweil, daß über eine extensive Landwirtschaft allein der Fleischbedarf nicht gedeckt werden könne. Das klingt, als hätten wir keine Überproduktion, sondern als drohe in Deutschland eine Unterernährung, wenn nicht jeden Tag Fleisch auf den Teller kommt. Wenn weniger – aber besseres – Fleisch zur Verfügung steht, wird weniger davon gegessen. Das dürfte gesundheitlich vielen ein größeres Glück bescheren. Wer dennoch speisen will wie immer, muß dafür dann eben tiefer in die Tasche greifen. Wo liegt also das Problem? Beim Denken vom größten Glück der größten Zahl, das noch immer das größte Unglück mit sich brachte.


 
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