© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    10/01 02. März 2001

 
"Einführung knallharter Kontrollen"
Peter H. Carstensen über die Eskalation der europäischen Agrarkrise und die Verteufelung der modernen Landwirtschaft
Moritz Schwarz

Herr Carstensen, BSE, Schweinepest, Maul- und Klauenseuche: Steht uns ein Agrar-GAU bevor, oder ist die Aufregung vor allem der Neigung der Medien zur Zuspitzung geschuldet?

Carstensen: Ein Agrar-GAU ist das auf keinen Fall. Wenn wir uns an die fünfziger und sechziger Jahre zurückerinnern: Da haben wir es mit weit mehr Krankheiten zu tun gehabt, nicht nur mit der Maul- und Klauenseuche, sondern zum Beispiel sogar mit Tuberkulose. Wir sind damit fertiggeworden und wir werden auch wieder damit fertig- werden, auch wenn es nicht leicht sein wird. Heute haben diese Vorfälle natürlich eine ganz anderes Medienecho, und die Menschen reagieren auch viel verunsicherter. Dazu tragen auch diese bösen Namen bei: Das heißt ja alles "Pest" und "Seuche" und erinnert uns unterschwellig gleich an Katastrophe und Untergang. Wir hatten Mitte der neunziger Jahre in München einige Todesfälle in Schulklassen und Kindergärten, die Ausflüge aufs Land gemacht hatten. Schuld war eine EHEC-Infektion. Warum kamen diese Todesfälle vor allem bei Stadtkindern vor, die doch kaum in Kontakt mit unbehandelter Rohmilch kommen? Die Landkinder, die viel öfter unbehandelte Milch tranken, haben diese Krankheiten kaum bekommen, weil sie durchseucht waren und Anti-Körper gebildet hatten. Ich möchte die Probleme überhaupt nicht herunterspielen. Ich finde aber, sie sind groß genug, als daß sie auch noch dramatisiert werden müßten. Ein kühler Kopf ist da unverzichtbar.

Das heißt, Probleme ja, Krise nein?

Carstensen: Ich halte die Darstellung der Situation durch die Medien in der Tat für völlig dramatisiert. Und ich stelle fest, daß die Ursache dafür häufig der fehlende Sachverstand ist. Die Berichterstatter wissen kaum etwas von den Notwendigkeiten der Tieraufzucht, noch von den möglichen Alternativen. Die Vorschläge, die da manchmal als "Auswege" in den Medien vorgeschlagen werden, sind oft genug schlicht jenseits jeder Biologie. Allerdings, bei vielen Politikern ist es leider genauso. Ein großes Problem ist auch die Darstellung unserer Landwirtschaft als einer "industrialisierten Landwirtschaft" mit Agrar-Fabriken statt Bauernhöfen. Daraus resultiert in unserem Denken die Vorstellung, man könne doch einfach irgendwo etwas abschalten. Dem ist aber nicht so, wir haben es mit Biologie zu tun: Wenn die Kuh Milch geben soll, muß sie pro Jahr ein Kalb austragen, und wenn wir sie ein Kalb gebären lassen, dann muß dieses auch irgendeiner Nutzung zugeführt werden, oder wollen Sie es gleich nach der Geburt töten lassen? Der dritte Punkt ist, man sollte sich mal vergegenwärtigen, was Agrarkrise ursprünglich meinte: nämlich Hungersnot! Unsere Krise ist dagegen die Überproduktion, ein Umstand, der anzeigt, daß es eine Agrarkrise – klassisch verstanden – eben gerade nicht gibt. Und dann soll sich natürlich jeder mal selbst an die Nase fassen: Fleisch jederzeit für jedermann, Erdbeeren im Winter, Kiwis und Kap-Stachelbeeren! Wer über die Probleme jammert, sollte sich fairerweise auch über die Erfolge freuen, aber die sind eben alltäglich geworden.

Also alles in Ordnung?

Carstensen: Nein, ich will nur einmal zurechtrücken. Ich finde es schon richtig, daß man sich auch seine Gedanken macht. Aber man muß einfach alle Aspekte betrachten. – Die Landwirtschaft hat dafür gesorgt, daß wir nur noch 13 Prozent unseres Einkommens für Nahrungsmittel ausgeben. Auf diese enorme soziale Leistung will niemand verzichten, dennoch wird sie überhaupt nicht anerkannt.

Es gibt also gar nicht "den Ausstieg" aus der industrialisierten Landwirtschaft, weil sie eine Säule unseres Wohlstandes und ein Pfeiler unseres sozialen Gefüges ist?

Carstensen: Jetzt sprechen Sie schon wieder von "industrialisierter Landwirtschaft". Wenn ich das mit dem mittelständischen Handwerk vergleiche, dann sind das kleine Familienbetriebe, mit hier und da mal einem oder zwei Beschäftigten. Das hat überhaupt nichts mit dem zu tun, was wir mit einer Fabrik verbinden.

Aber ein Merkmal von Industrialisierung ist doch gerade, daß eine Vielzahl von Beschäftigten überflüssig ist. Automaten füttern Kühe, melken sie etc. – und alles nicht nach natürlichen Bedürfnissen, sondern nach Effizienz-Plänen.

Carstensen: Sie machen sich kein Bild, wie die Bauern Tierhaltung früher betrieben, in der vermeintlich "guten alten Zeit": In alten Ställen war artgerechte Haltung ein Fremdwort, die Kühe standen angebunden, den ganzen Winter über mit dem Gesicht zur Wand, weil der Bauer von hinten fütterte, molk und ausmistete. Um das Glück der Kühe hat sich damals niemand Gedanken gemacht. Kein Vergleich zu unseren heutigen Laufställen, wo sich die Tiere frei bewegen und hinlegen können. Natürlich will ich auf der anderen Seite nichts beschönigen, die Schlachtung ist in der Tat eine industrialisierte Angelegenheit, und auch im Fall der Legehennen-Haltung haben wir Bedingungen, die den Vorwurf der Fabrikhaltung rechtfertigen können.

Auch dieVerwendung von Medikamenten und Wachstumsmitteln rechtfertigt den Vorwurf der industrialisierten Landwirtschaft.

Carstensen: Die Tiere sollen keine Medikamente bekommen, aber auch keine Maul- und Klauenseuche? Aber natürlich ist es eine heikle Sache, deshalb bin ich in dieser Angelegenheit auch für die schärfsten Strafen im Falle von Mißbrauch, bis hin zu Berufsverbot. Denn solche Leute sind Verbrecher.

Ist die Häufung von Epidemien im Moment denn reiner Zufall?

Carstensen: Das glaube ich schon. Schweinepest haben wir immer wieder, und die Maul- und Klauenseuche wäre ohne BSE nicht mehr als ein paar Pressemitteilungen und einige spektakuläre Bilder wert gewesen.

Warum brechen BSE, Schweinepest und Maul- und Klauenseuche Schlag auf Schlag alle aus-gerechnet in Großbritannien aus?

Carstensen: Das ist in der Tat eine interessante Frage, die ich aber leider nicht beantworten kann.

Einerseits wird erklärt, die Seuche stamme von einem verwahrlosten englischen Hof, andererseits soll sie eingeschleppt worden sein. Solche Rate-Mal-Erklärungen steigern nicht gerade das Vertrauen der Bürger.

Carstensen: Wir wissen nicht, woher der Ausbruch in Großbritannien kommt. Ein verdreckter Hof allein kann aber nicht die Ursache sein. Hier ist das Zusammenwirken zweier Faktoren gemeint: Die Seuche war bei uns, wie in Großbritannien, bereits ausgerottet. Das bedeutet, sie ist eingeschleppt worden. Daß sie dann auch zum Ausbruch kam, mag mit einem schlampig geführten Hof zusammenhängen: Etwa wenn mit zur Fütterung vorgesehenen Speiseresten nachlässig umgegangen wurde. Die größeren Betriebe sind meist professioneller und ordentlicher. Der EU-Ministerrat überlegt nun, neue Richtlinien zur Verfütterung von Speiseresten zu erlassen. Weil da eben eine Infektion stattfinden kann. Es hilft nicht, den Kessel nur eben zu erwärmen und den Deckel offenzulassen, die Speisereste müssen sterilisiert werden. Solche Nachlässigkeiten passieren aber eben eher in nicht professionell geführten Betrieben. Und tatsächlich ist etwa die Schweinepest fast immer dort ausgebrochen.

Der Rindfleischmarkt ist zusammengebrochen und erholt sich erst jetzt langsam. Was passiert, wenn nun noch die Maul- und Klauenseuche zu uns herüberschwappt?

Carstensen: Das würde ein Bauernsterben bedeuten. Zwar ist die Maul- und Klauenseuche eine klassische Seuche, so daß die Tierseuchenkassen einspringen müßten, nur sind die Tierseuchenkassen wegen BSE leer.

Der Präsident des britischen Bauernverbandes, Ben Gill, machte die "Liberalisierung des Welthandels" und die damit verbundenen Tier- und Fleischimporte für die Misere verantwortlich.

Carstensen: Die Globalisierung und die Öffnung der Märkte führt natürlich dazu, daß Krankheiten eingeschleppt werden können. Deshalb werden Sie in Amerika verhaftet, wenn Sie bei der Einreise auch nur ein Mettwurstbrötchen einschmuggeln. Und das gilt nicht nur für Tierkrankheiten, sondern vor allem für solche, die für uns Menschen gefährlich sind. So dramatisch ist es mit den Tierkrankheiten nicht, im Vergleich zu denen, die uns gefährden. Erstere haben wir trotz allem besser im Griff. Vergleichen Sie es nur mit Aids oder Ebola!

Es zeigt sich doch, daß sich die EU-Grenzfreiheit als Problem erweist?

Carstensen: Sicher, aber wollen wir sie deshalb aufgeben? Aber man muß in dieser Frage einen anderen Ansatz finden: Wir wollen doch importieren. Warum müssen wir Ananas essen? Wir wollen es eben: Also! – Bleibt noch die Ebene der Kontrollen. Und da gilt es zu verbessern.

Die Grenze verhindert den Warenaustausch nicht, sie filtert ihn nur.

Carstensen: Früher durfte ich meinen Hund nicht nach Dänemak mitnehmen, denn Dänemark war bis vor kurzem tollwutfrei.

Eben: "war"!

Carstensen: Das kann aber ebenso auch bei bestehenden Grenzen passieren, durch Grenzkriminalität, also Schmuggel.

Europa ist ein weltanschauliches Projekt der Nachkriegsgeschichte ...

Carstensen: Ja.

... Hat man nicht die – zugegebenermaßen relative – Sicherheit nationaler Grenzen, also die Interessen der Menschen, diesem ideologischen Traum allzu leichtfertig geopfert?

Carstensen: Das wäre ich nicht so sicher. Es gibt die sogenannte "normative Kraft des Faktischen". Gut, einerseits haben wir uns BSE eingehandelt. Das würde für Abschottung sprechen. Aber nehmen Sie die USA, die viel größer und klimatisch vielgestaltiger sind als Europa; dort funktioniert es auch ohne Binnengrenzen. Ich will also nicht so einfach "ja" sagen, denn dann müßte ich daraus auch Konsequenzen ziehen; und ich habe Angst vor Konsequenzen, die auf Vermutungen basieren.

Trauen wir uns nicht einfach nur nicht "heran" an Europa, weil es zu einem konstituierenden Nachkriegsdogma geworden ist?

Carstensen: Nein, es gibt schon auch handfeste Gründe. Aber ich nehme andererseits Ihren Einwand schon ernst. Ich möchte aber wirklich lieber über Kontrollen sprechen. Ein Beispiel aus Schleswig-Holstein: Bis etwa 1996 hat es im ganzen Land nur zwei Futtermittel-Kontrolleure gegeben. 1996 ist dann einer pensioniert worden, seitdem gibt es nur noch einen: Da liegt das Problem! Ein oder zwei Kontrolleure für ganz Schleswig-Holstein! Es kommt aber noch besser: Der Etat für die Kontrollen betrug 1996 etwa 380.000 Mark, 1999 bzw. 2000 sind nur noch 38.000 Mark ausgegeben worden. Und davon wurden etwa 30.000 Mark für Bodenproben verwandt. Auf gut deutsch: Es gab Stichproben, aber überhaupt keine echte Kontrolle. Das ist der Skandal! Ein weiteres Beispiel ist das Verbot zur Verfütterung von Milchaustauschern – "Milupa" für die Kälber – in Zusammenhang mit der BSE-Krise. Erst sollte erlaubt werden, die noch vorhandenen Mengen zu verfüttern. Dann verbot man es unter dem Druck der öffentlichen Meinung doch, infomierte aber die Bauern davon nicht, die in gutem Glauben weiter verfütterten. Das war kurz vor Weihnachten. Ich habe dann am Tag nach Weihnachten die Landesregierung bei uns in Schleswig-Holstein darüber informiert, wieviel Austauscher noch auf den Höfen liegt. Doch erst Ende vergangener Woche begann die Aufkaufaktion der Reste durch die Landesregierung. Auch hier kann ich nur sagen, das ist der Skandal! Das kriegen Sie aber in der Presse nicht so mit, weil brennende Rinder spektakulärer sind. Für mich sind die Einführung knallharter Kontrollen und wirksamer politischer Maßnahmen deshalb die Antwort.

Wie reagiert der Landwirtschaftsausschuß?

Carstensen: Wir haben das Thema in einer Sondersitzung am 5. Januar behandelt und wandten uns an die damals noch im Amt befindlichen, verantwortlichen Minister, Frau Fischer und Herrn Funke. Mehr kann der Ausschuß auch nicht tun. Der Ausschuß gehört schließlich nicht zur Exekutive und kann daher keine Maßnahmen treffen. Wir können ja nicht einmal über so etwas abstimmen lassen. Das kann ich als Ausschußvorsitzender nur mit Angelegenheiten machen, die mir vom Bundestag als Antrag zugeleitet worden sind.

Warum drängen Sie nicht, Ihre Fraktion einen entsprechenden Antrag zu formulieren?

Carstensen: Wir haben die Sache ja angeleiert, und sie ist jetzt "in Gang gekommen". Und das meiste, was jetzt gemacht wird, beruht auf Anträgen der CDU/CSU-Opposition. – Ich wollte Ihnen als Vorsitzender des Landwirtschaftsausschusses nur einmal klarmachen, wie schwerfällig das ganze Procedere leider ist.

Kritisieren Sie die Reform-Maßnahmen der neuen Landwirtschaftsministerin Renate Künast?

Carstensen: Ich habe nichts gegen das Ziel, mehr ökologische Landwirtschaft zu erreichen, wenn denn die Produkte auch verkauft werden können. Das kann man eben nicht von oben verordnen, wie Frau Künast das will. Dafür muß ein Markt geschaffen werden, es muß sich in die Marktwirtschaft einfügen, damit das klappt. Und da sind wir wieder beim Verbraucher. Der nächste Punkt, den ich kritisiere, ist: Vor zwei Jahren hat der Kanzler den Bauern gesagt, sie sollen weltmarkttauglicher werden. Jetzt erzählt die Regierung genau das Gegenteil! Was sollen die Bauern denn machen? Ich meine, die Bauern müssen entlastet werden. Es muß auch endlich klar gesagt werden, daß es inzwischen wieder möglich ist, sicher Rindfleisch zu essen. Die Politik muß die immer noch verunsicherten Verbraucher aufklären. Nur mit verläßlicher Hilfe aus der Politik können die Bauern bestehen. Und ein letzter Kritikpunkt: Frau Künasts Pläne berücksichtigen nicht, daß wir an den WTO-Verhandlungen teilnehmen. Wir können also nicht den für Frau Künasts Kurs nötigen wirtschaftlichen Außenschutz aufbauen.

Vielleicht müssen wir aber den Mut finden, genau das tun, wenn wir nicht auf Gedeih und Verderb der Dynamik desWeltmarktes ausgeliefert sein wollen?

Carstensen: Na hören Sie mal, wir wollen doch überall offene Märkte auch für andere Produkte, die wir exportieren! Außerdem bin ich von der Wohlfahrtswirkung eines freien Handels überzeugt.

 

Peter H. Carstensen: Oberlandwirtschaftsrat a.D., ist Vorsitzender des Ausschusses für Ernährung und Landwirtschaft des Deutschen Bundestages. Geboren 1947 in Nordstrand/ Schleswig, studierte er nach dem Abitur Agrarwissenschaften in Kiel. Seit 1976 ist er als Landwirtschaftslehrer an der Landwirtschaftsschule Bredstedt und als Wirtschaftsberater bei der Landwirtschaftskammer Schlewig-Holstein tätig. Er ist u.a. Präsident des Deutschen Fischereiverbandes e.V. sowie Präsident der Deutschen Gesellschaft für Agrar- und Umweltpolitik e.V. Seit 1983 gehört er für die CDU dem Bundestag an.

 

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