© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    10/01 02. März 2001

 
Pankraz,
Günter Herburger und die große Demütigung

Viel ist in der letzten Zeit über die 68er-Bewegung gesagt und geschrieben worden. Was bisher – auch von den Kritikern der Bewegung – zu wenig erinnert wurde, ist der schier unglaubliche Wille zur Demütigung, der die 68er beherrschte. Besonders in den Anfängen von deren sogenannter "Kulturrevolution", als es in erster Linie gegen Professoren, Lehrer, Erzieher überhaupt ging, zielte faktisch alles darauf ab, diese Erzieher bis zum Exzeß zu demütigen, sie und ihr Werk zu verhöhnen und lächerlich zu machen, sie zu Unterwerfungsgesten und Widerrufen zu zwingen, ihnen absurdes, fremdbestimmtes Vokabular aufzunötigen, sie in bedrohliche und/oder beschämende Situationen zu bringen.

Vorbild und direkter Ratgeber war Mao Tse-tungs "große sozialistische Kulturrevolution" von 1966, der "chinesische Holocaust", wie Historiker heute sagen, dem nach vorsichtigen Schätzungen elf Millionen Menschen zum Opfer gefallen sind, in erster Linie Intellektuelle, Hüter der Tradition, Lehrer und Familienvorstände. Sie wurden gewaltsam von ihren Pulten und aus ihren Instituten geholt, man setzte ihnen hohe, spitze Ketzerhüte auf und stellte sie zum Verhöhnt- und Angespucktwerden auf Lastwagenflächen, man zwang sie, ihre Bücher und Tuschzeichnungen eigenhändig zu zerreißen, trieb sie zum "Scheißehäufeln" auf die LPG-Felder oder in extra für sie eingerichtete Arbeitslager.

Unzählige knickten ein, beteten alsbald die irren Parolen der "Kulturrevolutionäre" nach und schwenkten hektisch-rhythmisch Maos "Rotes Büchlein". Wer "stur" blieb und nicht mitmachte, wurde am Ende totgeschlagen. Und in Deutschland erregte sich zum Beispiel ein Günter Herburger im Spiegel darüber, daß die Bonner Regierung den chinesischen Behörden nicht folgte und hiesigen "Kulturrevolutionären" keine mobilen Feldküchen für ihre Kampagnen zur Verfügung stellte.

Es war ein weltweiter, globaler Angriff auf den Geist. Das Niveau sollte gesenkt werden, die Erinnerung entdifferenziert werden – und deshalb mußten die Geistes- und Erinnerungsträger systematisch terrorisiert und schließlich gedemütigt werden. Denn nur gedemütigter Geist dankt wirklich ab.

Demütigung hat nichts mit Demut zu tun, obwohl es in allen Sprachen faktisch dieselben Wörter sind. Die Demut ist eine eindeutig freiwillige Handlung. Ich kann mich unterwerfen, ohne dabei demütig zu sein; ich spiele dann allenfalls Demut, das heißt ich lüge. Werde ich aber gedemütigt, dann danke ich als geistig-moralische Instanz vollkommen ab, und der Demütiger genießt eine wahrhaft höllische Genugtuung: Er sieht im Blick des Gedemütigten, wie dieser nicht nur (momentan) auf sein Lehr- und kulturelles Wächteramt verzichtet, sondern wie ihn am Ende geradezu eine triebhafte Lust an dieser Preisgabe überschwemmt, wie er sich buchstäblich "ausliefert".

Psychologen haben darauf hingewiesen, daß diese Auslieferung stets sexuell getönt sei. Demütigung, sagen sie, gebe es nur im erotischen Feld. Ein Hungernder etwa, der um Nahrung fleht und dem der Folterer die Nahrungsbrocken nur um den Preis des Ablegens jeglicher Scham gewährt, werde nicht eigentlich gedemütigt, er behalte seine innere Freiheit. Wenn man von ihm verlange, sich aller Schamgebärden zu begeben und seinem Peiniger dankbar die Stiefel zu lecken, nachdem ihm dieser endlich einen Nahrungsbrocken in den Mund gesteckt hat, könne er sich ja statt dessen entschließen, weiter zu hungern und also zu "ver"-hungern. Er behalte seine Freiheit, so grausam es auch klingen mag.

Einzig in einer erotischen Situation könne der Gefolterte zum Gedemütigten werden. Er gibt sein Innerstes dem Demütiger preis, opfert ihm sein letztes bißchen Autonomie, macht ihn zu seinem Gott, wird gewissermaßen zum Mystiker zu herabgesetzten Preisen. Nur in der mystischen Vermählung mit Gott, in der unio mystica, wäre ja solche Art von Selbstpreisgabe – vielleicht – hinnehmbar; die Kirche hat freilich auch gegen ihre größten Mystiker (und vor allem Mystikerinnen) stets ein Mißtrauen bewahrt und ihnen Anerkennung stets nur unter Skrupeln und nach genauesten Prüfungen des konkreten Einzelfalles erteilt.

Was die Masse der von den 68ern sei-nerzeit gedemütigten, zur Auslieferung gezwungenen Lehrer und Traditionsbewahrer betrifft, so kommt ihnen der Rang von Mystikern gewiß nicht zu. Die erotische Komponente ihrer Unterwerfung konnte sich früh schon in eine Art geistiges Bratkartoffelverhältnis mit den Demütigern umwandeln, da die siegreiche "Kulturrevolution" sich ab den Siebzigern immer mehr der großen Politik zuwandte.

Da ging es dann um "antiimperialistischen Klassenkampf", um die "Herstellung des Sozialismus", um die Ersetzung der "Gewalt gegen Sachen" durch die "Gewalt gegen kapitalistische Charaktermasken". Noch später – nach dem gänzlich unerwarteten Zusammenbruch des "sozialistischen Weltlagers" – um erfolgreiches Sicheinnisten in die kapitalistischen Strukturen, um Karrieremachen und die Etablierung von Geschichtslügen.

"Und ihr hat doch gesiegt", lautet inzwischen der gängige Slogan. "Ihr habt, was speziell die deutschen Verhältnisse angeht, die verknöcherte Adenauerrepublik bewohnbar gemacht, die Vergangenheitsbewältigung ordentlich in Fahrt gebracht, die Schleusen der Lebenslust und des ungehemmten Verbrauchertums voll geöffnet. Dafür Dank und noch einmal Dank."

Was verschwiegen wird und fast schon im Orkus des Vergessens versunken ist, ist der Vatermord, der am Anfang der Bewegung stand, beziehungsweise – schlimmer noch als Mord – die große Demütigung, die Verwandlung von echten Intellektuellen in Intellektual-Zombies, die auf Knopfdruck Phrasen ablassen und bedeutsam mit ihren Ketzerhüten wackeln. Und dabei war das doch unbezweifelbar der größte Erfolg, den die 68er errungen haben.


 
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