© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    10/01 02. März 2001

 
Von der Sehnsucht nach – was?
Konzert: Lorin Maazel dirigiert Schuberts "Unvollendete" und "Große Symphonie"
Werner Veith

Krankheit, Armut, Selbstzweifel – so läßt sich das Leben Franz Schuberts umschreiben. In seiner Musik hat er dagegen angeschrieben. Sie wurde – nicht zuletzt auch deshalb – abgelehnt. Schubert konnte seine Kompositionen fast nur im Kreise seiner Freunde vorstellen – die Uraufführung seiner Symphonien durfte er nie erleben. Auch seine bekannteste Symphonie, die sogenannte "Unvollendete" (D 759), wurde erst am 17. Dezember 1865 uraufgeführt, 37 Jahre nach seinem Tod. Sie ist als "Unvollendete" das, was die deutsche Romantik so liebte: Ein Fragment, ein unabgeschlossenes Werk – Sinnbild für das zerrissene Mensch-Sein. Daß Schubert diese Symphonie, aus welchen Gründen auch immer, mit dem zweiten Satz abbrechen läßt und auf die sonst üblichen vier Sätze verzichtet, erscheint vor dem Hintergrund seines schwierigen Lebens plausibel. Als vorwiegend todessehnsüchtig, depressiv und schmerzvoll hat man die "Unvollendete" denn auch oftmals beschrieben.

Lorin Maazel stellt sich diesem düsteren Bild entgegen. Zusammen mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks läßt er die "Unvollendete" in der Meistersingerhalle in Nürnberg als romantisches Sehnsuchtsgemälde erklingen. Am süßlichen Klang der Bläser orientiert Maazel sein Verständnis, und drängt die dunklen Akzente der Streicher in den Hintergrund. Bisweilen spürt man die Gemütlichkeit eines österreichischen Weinlokals. Heraus kommt eine romantisierende Interpretation, die Transparenz vermissen läßt. Statt dieser prägt der sehnsüchtige Ausdruck des Ganzen das Spiel bis in die einzelnen Nuancen hinein. Dem freilich schönen Gesamtklang opfert Maazel die klaren musikalischen Strukturen, die die Musiknoten Schuberts trotz allem enthält.

Dem Vorwurf des Romantisierens scheint sich der Maestro, der im nächsten Jahr Kurt Masur in der Leitung der New Yorker Philharmoniker ablöst, bewußt auszusetzen. Der Schlüssel zu Maazels Interpretation der "Unvollendeten" liegt in der Kombination mit der "Großen Symphonie" (D 944). Ist Schuberts "Große" und letzte Symphonie nicht die Antwort auf die "Unvollendete", mag sich Maazel gefragt haben – oder besser: eine Erfüllung der Sehnsucht, die die ersten zwei Sätze der "Unvollendeten" formulieren und die vielleicht deren letzte beide Sätze hätten beantworten sollen? Sechs Jahre liegen zwischen der Abfassung beider Symphonien: sechs Jahre, in denen Schubert Antworten auf seine drängenden Fragen gefunden zu haben glaubte – oder hätte er sonst nach dem Scheitern an den letzten beiden Sätzen seiner "Unvollendeten" einen neuen Anlauf zu einem derart großen Werk gewagt?

Diese Perspektive bestimmt Maazels Herangehen an die "Große Symphonie". So führt die sehnsuchtsvolle Spannung, die sich in der "Unvollendeten" aufbaut, in der "Großen" ins Dramatische, das sich aber zum Guten wendet. Dem düsteren h-Moll ist deshalb ein helles und kraftvolles C-Dur entgegengesetzt. Das Melancholische der "Unvollendeten" wird im entschlossenen Handeln durch das Tragische hindurch zur Erlösung geführt. Der siebzigjährige Maazel akzentuiert in der "Großen" gerade auch ihre dunklen und schicksalshaften Momente, ohne die optimistische Grundstimmung damit zu verdecken. Diese Gegensätze drückt das Orchester im Wechsel vom zarten Pianissimo zum wuchtigen Fortissimo aus, mit dem sich im letzten Satz die Spannung im Pathos der aufkommenden Erlösung auflöst.

Freilich bleibt diese doch letztlich zu unbestimmt, als daß sie sich wirklich mitteilen könnte. Die Themen verlieren sich immer wieder im Ungewissen der einzelnen Stimmen, ohne daß eine klare Linie auszumachen ist. Alles Pathos kann so doch ein Gefühl der Leere nicht vertreiben. Dies mag vielleicht daran liegen, daß man die musikalische Leidenschaft im Orchester vermißte, das wie der Maestro etwas angestrengt und angespannt wirkte. Von einem Dirigenten und teuren Spitzenorchester von Weltruf hätte man sich doch etwas mehr erwartet als den klanglichen Ausdruck einer vagen Hoffnung auf Besserung. Die hat Schubert zeitlebens gehabt, seine Musik will aber wohl mehr sagen.

 

Information: Konzertwiederholung in München am 18. März und 1. April (Tel. 089 / 98 29 28 27) und in Luzern am 31. März 2001. Einen gesamten Schubert-Zyklus gibt es im Prinzregententheater München ab dem 13. März 2001.

Literatur: Franz Schuberts Symphonien. Entstehung, Deutung, Wirkung. Hrsg. im Auftrag des Bayerischen Rundfunks von Renate Ulm, dtv, 270 Seiten, Abb., 26,50 Mark

 

Schuberts "Unvollendete" auf CD

Im Vergleich zu Lorin Maazel bietet die Aufnahme mit Karl Böhm und den Berlinern Symphonikern ein stärkeres Wechselbad der Gefühle, ein "himmelhoch jauchzend – zu Tode betrübt". Bei Böhm klingen die Geigen zeitweise schrill, Cellos und Kontrabässe bedrohlich. Die depressive Wirkung läßt sich bei dieser Einspielung wirklich spüren, wenn man sich das Werk öfters hintereinander anhört. Wie erzeugt Schubert diese der Verzweiflungsstimmung? Einerseits durch den geschickten Wechsel der Tonarten: Vom tragischen h-Moll zum hellen D-Dur, G-Dur usw. und wieder zurück zu h-Moll. Andererseits durch den Einsatz des Zigeunermolls, das das h-Moll chromatisch zersetzt und die Melodie zusammensacken läßt (Deutsche Grammophon). Bemerkenswert sind auch die historische Einspielung aus dem Jahr 1950 mit Arturo Toscanini (BMG) sowie die legendäre Aufnahme mit Carlos Kleiber und den Wiener Philharmonikern (Deutsche Grammophon).


 
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