© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    11/01 09. März 2001

 
Das Andere mußte zum Gleichen werden
Die Unterzeichnung der Europäischen Charta für Regional- und Minderheitensprachen bedeutet für Frankreich keine Abkehr vom jakobinischen Prinzip
Alain de Benoist

Vor einiger Zeit wurden wir in Frankreich Zeugen einer erstaunlichen Debatte. Alles begann damit, daß die französische Regierung am 7. Mai 1999 die Europäische Charta für Regional- und Minderheitensprachen unterzeichnete. Dieses Dokument, das am 5. November 1992 in Straßburg vom Europarat verabschiedet worden war, enthält eine Reihe von Bestimmungen zugunsten des Gebrauchs von Regionalsprachen im öffentlichen Leben. Frankreich hatte sich lange geweigert, die Charta zu unterzeichnen, schließlich aber 35 von 98 Punkten zugestimmt, also der erforderlichen Mindestzahl.

Die Möglichkeit, daß dieses Dokument ratifiziert würde, rief sofort außergewöhnlich heftige Reaktionen hervor. So sah der gaullistische Abgeordnete Jacques Myard das Schreckgespenst einer "sprachlichen Balkanisierung, die in einer politischen Balkanisierung, (...) einem kollektiven Selbstmord enden wird", während der Sozialist Georges Sarre behauptete, daß er in der Charta ein Mittel sehe, "den Begriff des französischen Volkes als solchen, der seit der Revolution die Grundlage der Staatsbürgerschaft ist, in Frage zu stellen". Yvonne Bollmann versicherte im selben Geist, daß "die Regionalsprachen das beste Mittel sind, die Staaten zu zersetzen, ohne daß ein direkter Angriff offensichtlich ist". Jean Pierre Chevènement erklärte: "Ich möchte nicht, daß der Begriff des französischen Volkes durch andere nebulöse Konzepte, die einen Bezug zur ethnischen Herkunft haben, ersetzt wird." Die angeführten Zitate mögen genügen, um zu zeigen, daß der Ausdruck einer wie auch immer gearteten gesonderten kollektiven Identität innerhalb der französischen Öffentlichkeit heute durchweg als Angriff auf das Modell der Republik angesehen wird, als ein In-Frage-Stellen der Nation oder als Ankündigung einer bevorstehenden Desintegration.

Wenn man die Lage der regionalen Sprachen in Frankreich betrachtet, hat man allerdings nicht den Eindruck, daß diese eine solche Gefahr darstellen. Um 1910 betrug die Zahl der des Bretonischen Mächtigen in der Niederbretagne (Basse-Bretagne) noch mehr als eine Million. Heute sind es weniger als 250.000. Der elsässische Dialekt wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts praktisch von der Gesamtheit der Elsässer gesprochen, genauso wie das Korsische praktisch von allen Korsen gesprochen wurde. Heute gibt es auf Korsika bei einer Einwohnerzahl von 250.000 nur noch 140.000 Sprecher des Korsischen, und die Zahl der deutschsprachigen Elsässer beläuft sich nur noch auf 900.000 von 1,7 Millionen Einwohnern. Im Baskenland beherrscht kaum mehr als ein Viertel der Bevölkerung aktiv das Baskische. Was die Zahl derer betrifft, die eine okzitanische Mundart sprechen, so ist festzustellen, daß diese von zehn Millionen im Jahre 1920 auf den heutigen Wert von weniger als zwei Millionen gesunken ist. Außerdem gibt es noch 120.000 Sprecher des Katalanischen und 35.000 Flamen, die selbstverständlich alle auch Französisch beherrschen. Im Unterrichtsjahr 1995/6 lernten aus einer Gesamtzahl von zwölf Millionen lediglich 335.000 Schüler eine regionale Sprache.

Was auf den ersten Blick an der Debatte erstaunt, ist das offensichtliche Mißverhältnis zwischen der Heftigkeit der Reaktionen und der realen Lage der Dinge. Allerdings geben die gewaltigen Ausmaße dieser polemisch geführten Debatte schnell zu erkennen, daß sie nur einen symbolischen Wert hatte und daß es in Wirklichkeit um etwas ganz anderes ging.

Worum es in Wirklichkeit ging, machte der Verfassungsrat am 15. Juni 1999 unmißverständlich klar, als er erklärte, daß die Europäische Charta der Regionalsprachen, "indem sie Sprecher’grup-pen‘ von Regional- oder Minderheitensprachen in den betroffenen ’Territorien‘ gewisse Rechte zuspricht, den Verfassungsgrundsätzen der Unteilbarkeit der Republik, der Gleichheit vor dem Gesetz und der Einheit des französischen Volkes widerspricht". Bereits im Jahre 1991 hatte der Verfassungsrat die rechtliche Anerkennung der Existenz des korsischen Volkes verweigert (als "historische und kulturelle Gemeinschaft und Bestandteil des französischen Volkes", so die Terminologie des verhinderten Projekts). Das Motiv war wieder dasselbe: Die französische Verfassung verhindere es, "daß irgendeiner Gruppe kollektive Rechte zuerkannt werden, sei es einer Herkunfts-, Kultur-, Sprach- oder Glaubensgemeinschaft". Das Positive an der Erklärung des Verfassungsrates ist ihre Deutlichkeit. Die Prinzipien, auf die sie sich stützt, zeigen in der Tat eine sehr präzise Ideologie. Bei dieser Ideologie handelt es sich um das Jakobinertum.

Das Jakobinertum entspricht historisch gesehen der extremsten Form der Ideologie des modernen Staates, d. h. des Nationalstaats. Diese Ideologie zielt darauf ab, auf rigorose Weise die politische Einheit und die kulturelle bzw. sprachliche Einheit eines Territoriums in Einklang zu bringen, homogen zu machen – und dies durch die Handlungen einer Zentralmacht, welche mit einer ausschließlichen Souveränität ausgestattet ist und somit als sichtbarer Träger des Interesses aller und als alleiniger Repräsentant der Gesamtheit aller Bürger fungiert.

Der Begriff "Jakobinertum" spielt offensichtlich auf die Politik des Jakobinerklubs während der französischen Revolution an. Im Jahre 1789 schafft die Revolution die politische Nation, indem sie die Ordnung des Ançien Regime beseitigt, aber sie bewahrt und verstärkt dabei sogar noch dessen Tendenz zum Zentralismus und dieselbe Konzeption der Souveränität. Die Vorrechte des Fürsten und die unteilbare Einheit, die in der absoluten Monarchie mit der Person des Königs verbunden war, werden lediglich auf die Nation übertragen. Der Einheitsgedanke ist dominanter denn je. Saint Juste und Robespierre werden nicht müde zu wiederholen: "Die Einheit ist unsere fundamentale Maxime, die Einheit ist unser Schutz gegen den Föderalismus, die Einheit ist unser Heil."

Während Rousseau nicht ohne Grund die Idee der Repräsentation vom Standpunkt eines aus der Antike entlehnten Ideals der direkten Demokratie kritisierte, definierte Sieyès schon im Januar 1789 die Nation als "eine Körperschaft von Mitgliedern, die unter einem gemeinsamen Gesetz leben und von derselben Gesetzgebung vertreten werden", das heißt durch eine Versammlung, die mit der Gesetzgebung beauftragt ist. Demnach beruht die Nation künftig auf einem Gesellschaftsvertrag, einer subjektiven Verpflichtung. Die Nation ist keineswegs ein Produkt der Natur oder der Geschichte, sondern resultiert erst aus einem freiwilligen Erschaffungsakt der Individuen, ohne daß sie vorher existiert oder sich den Individuen auf irgendeine Weise auferlegt hätte. Da die politische Nation eine einheitliche Vertretung erfordert (eine einzige Versammlung soll alle Bürger repräsentieren), bedeutet dies auch, daß es keine besonderen Gesetze für einzelne Gruppen geben kann; es gibt nur noch allgemeine Gesetze, die auf alle Individuen Anwendung finden, ungeachtet ihrer Besonderheiten. Die Nation definiert sich seitdem nicht durch das Volk oder die Gesellschaft, sondern durch den Staat. Sie wurde durch ihn konstituiert, und der Staat deckt sich gleichzeitig mit der Nation.

Indem das Volk von der Nation losgelöst wird, bewirkt die politische Moderne also eine Trennung zwischen Gesellschaft und Staat. Ausgehend von der Idee, daß "keine menschliche Versammlung natürlich ist" – ein völlig neuer Gedanke –, schließt der Nationalstaat aus Prinzip den Pluralismus der gesellschaftlichen Teile sogar in dem Maße aus, wie er die Heraufkunft des Individuums heiligt. Jeder gesellschaftliche Pluralismus stellt in der Tat ein Hindernis für die Einheit dar, die der Staat zu schaffen beabsichtigt. Da der Nationalstaat das Rechtsmonopol innehat, kann er in seinem Innern keine juristischen Einheiten auf persönlicher Grundlage dulden und verhindert deshalb, daß in den Gemeinschaften und Regionen solche Einheiten entstehen oder aufrechterhalten werden. Er will neben und unter sich nur solche isolierten Individuen anerkennen, die allen gemeinsame Charakteristika aufweisen und auf die das kollektive Recht Anwendung findet: isolierte Individuen, die über keine eigene politische oder rechtliche Organisation verfügen können, selbst wenn sie gemeinsame natürliche oder kulturelle Eigenschaften aufweisen.

Frankreich konstituierte sich durch seine Staatssprache

Das moderne Prinzip der Staatsbürgerschaft berücksichtigt also überhaupt nicht die Sprache, die Kultur, den Glauben, die Rasse, das Geschlecht usw., also all das, was dazu führt, daß die Menschen so und nicht anders sind. Es beruht auf der "Gleichheit" der Individuen in bezug auf das politische System, wobei alles, worin sich die Menschen unterscheiden, in die Privatsphäre verwiesen wird. Kulturelle Unterschiede und gemeinsame Identitäten werden als etwas Zufälliges, Beiläufiges, ja sogar Illusorisches betrachtet und daher als politisch unbedeutend abgetan. Sie werden lediglich geduldet, solange sie im Bereich des Politischen unsichtbar oder unwirksam bleiben. Die offizielle Doktrin lautet also künftig Assimilation, das heißt Ausmerzung und Vereinnahmung: Das Andere muß zum Gleichen werden.

Die Minderheiten sehen sich mit einem Schlag jeglichen politischen Status beraubt. Deshalb geht die Verbreitung des Nationalstaatsgedankens fast überall mit einer Unterdrückung der Minderheiten einher. "Der Begriff der Minderheit selbst – sei sie nun ethnischer, sprachlicher oder religiöser Art ", schreibt Maurice Barbier, "steht zur politischen Moderne im Widerspruch, da er zur Aufrechterhaltung der ethno-kulturellen Nationen führt, was der politischen Nation zuwiderläuft." Im Jahre 1976 konnte der Vertreter Frankreichs bei der Abteilung für Menschenrechte in der UNO noch erklären, daß die französische Republik "keine Unterscheidung akzeptiert, die auf ethnischer Grundlage beruht, und deshalb den Begriff ’Minderheit‘ ablehnt"!

Nachdem wir den sprachlichen Ausschließlichkeitsanspruch im weiteren historischen Rahmen des Jakobinertums betrachtet haben, können wir jetzt die Natur dieses Exklusivismus besser bewerten. Dieser Ausschließlichkeitsanspruch entsteht in Europa mit der Geburt der ersten Nationalstaaten. Für Frankreich datiert man seinen Anfang gewöhnlich auf August 1539, als Franz I. den bekannten Erlaß von Villers-Cotterets unterzeichnete, der den Gebrauch des Französischen anstelle des Lateinischen für alle Schriftstücke der Verwaltung und des Rechtswesens vorschrieb. Ungefähr zur selben Zeit, im Jahre 1536, legte der Unionsvertrag, welcher England und Wales verband, fest, daß künftig das Englische die alleinige Verwaltungssprache des Königreichs sei. Anderthalb Jahrhunderte später, im Jahre 1707, bestimmte Phillip V. das Kastilianische zur alleinigen Verwaltungssprache in Spanien, auch in Katalonien und im Baskenland.

Seit dem Ende des 16. Jahrhunderts geht die fortschreitende Verbreitung des Französischen, die nicht nur zu Lasten des Lateinischen, sondern auch zum Nachteil der Regionalsprachen erfolgt, eng einher mit dem Ausbau des königlichen und später republikanischen Staates – dies mit einer solchen Stetigkeit, daß man nach den Worten des Sprachwissenschaftlers Bernard Cerquiglini geradezu sagen könnte: "Der Staat in Frankreich hat sich durch seine Sprache konstituiert."

Gleichzeitig wird die französische Sprache in immer stärkerem Maße zu einem homogenen und einheitlichen Ganzen umgebildet. Die Gründung der Französischen Akademie (Academie Française) durch Richelieu im Jahre 1634 spielte hierbei eine wichtige Rolle. Die Akademie, die im Jahre 1694 die erste Ausgabe ihres berühmten Wörterbuches (Dictionnaire) veröffentlichte, zielte darauf ab, die Schriftgelehrten dem Fürsten dienstbar zu machen und ein für alle Mal die Regeln für den Gebrauch des Französischen festzulegen. Sie ahndet schlechten Sprachgebrauch – worüber man sich eigentlich nicht beschweren kann –, bremst aber gleichzeitig die Vitalität der Sprache, indem mit dem schlechten Sprachgebrauch auch alle aus Spontaneität und Erfindungsreichtum geborenen Varianten von Sprechern abgelehnt werden, die sich nicht an die normierte Form halten.

Die Verbreitung des Französischen erfolgte in dieser Zeit allerdings kaum durch Zwangsmaßnahmen, die zu seinen Gunsten ergriffen worden wären. Vielmehr ist sie hauptsächlich durch soziale Faktoren bedingt, vor allem durch den Aufstieg des Bürgertums. Es sind in der Tat die bürgerlichen Eliten, die als erste die regionalen Sprachen aufgaben, da sie ihre soziale Position zu verbessern hofften, indem sie von der Sprache des Volkes zur Sprache des Staates übergingen, die gleichzeitig auch die Sprache des überregionalen Handels war. Es war nicht nur wirtschaftlich nützlich, Französisch zu lernen; vielmehr war eine Anpassung an die sprachlichen Gepflogenheiten des Hofes auch eine Möglichkeit zum gesellschaftlichen Aufstieg.

Nichtsdestotrotz spricht die überwältigende Mehrheit der Franzosen am Vorabend der Revolution immer noch nicht oder nur schlecht Französisch. Die Volksmassen sprechen hauptsächlich Bretonisch, Baskisch, germanische Dialekte: Elsäßisch, Moselfränkisch und Flämisch, oder sie bedienen sich ihrer regionalen Mundarten, der Langue d‘oc und der Langue d‘oil. Obwohl Frankreich im Jahre 1789 als "eins und unteilbar" erklärt worden war, war es kaum einig und hätte leicht geteilt werden können. Hier begann die rein politische Notwendigkeit einer "Nationalsprache" spürbar zu werden. Die Mundarten wirkten sowohl archaisch als auch hinderlich bei der Verbreitung der neuen Ideen.

Am 27. Januar 1794 gab Barere vor dem Nationalkonvent seine berühmte Erklärung ab: "Wir haben die Regierung roevolutioniert, die Sitten und das Denken; revolutionieren wir auch die Sprache: Der Föderalismus und der Aberglaube sprechen niederbretonisch, die Emigration und der Haß auf die Republik sprechen deutsch, die Konterrevolution spricht italienisch, und der Fanatismus spricht baskisch. Brechen wir diese Instrumente des Schadens und des Irrtums (...). Bürger, die Sprache eines freien Volkes muß für alle ein und dieselbe sein!"

Regionalsprachen waren an den Schulen verboten

Die damals angeführten Argumente sind sehr aufschlußreich. Indem die Jakobiner die regionalen Sprachen anprangerten, gingen sie von sehr konkreten ideologischen Erwägungen aus. Zuerst geht es darum, "die Vorurteile zu beseitigen", also alles auszulöschen, was irgendwie an die Vergangenheit erinnert. Dann ist alles zu eliminieren, was eine Trennwand zwischen dem Einzelnen und dem Staat darstellt, um, so die Worte von Abt Grégoire, "alle Bürger in eine nationale Masse zu verschmelzen", damit "das Arbeiten der politischen Maschinerie" vereinfacht werde. Aber es geht auch darum, eine Sprache zu "vereinheitlichen", die zwar die erste Sprache war, welche das Gedankengut der Aufklärung zum Ausdruck brachte Deshalb wird sie als die vollkommenste und universellste Sprache angesehen, die von Natur aus dazu bestimmt sei, in der ganzen Welt die Ideale der "Vernunft" und des "Fortschritts" zu verbreiten. Gleichzeitig aber gilt sie als "Tummelplatz der Dialekte, Mundarten und Idiome, die nur besondere lokale Formen der Grobheit und Rückständigkeit oder, wie man es heute sagen würde, der Unterentwicklung widerspiegeln."

Der Jakobinismus steht also für eine vereinheitlichende und zentralisierte Sprachpolitik. Er verleiht einer Sprache das Privileg einer Staatssprache und hemmt oder verbietet den öffentlichen Gebrauch der anderen autochthonen Sprachen und Mundarten. Zum rein privaten Gebrauch verdammt, bleiben die anderen Sprachen auf den mündlichen Gebrauch beschränkt, was dazu führt, daß diese Sprachen grammatikalische Unregelmäßigkeiten entwickeln, lexikalisch verarmen und in Dialekte zersplittern. Diese derart in die Defensive gedrängten und jeder nützlichen und ihren Wert steigernden Funktion beraubten Sprachen werden bald selbst im Denken ihrer eigenen Sprecher von der Staatssprache verdrängt, die allein Ansehen und Effizienz vermittelt und zum gesellschaftlichen Aufstieg beitragen kann. So wird die Staatssprache von Generation zu Generation in ständig steigendem Maße nicht nur zur Sprache der Kommunikation und Kultur, sondern bei einem immer größeren Teil der Bevölkerung auch zur Muttersprache. Die kulturelle Homogenität der Einwohner kann also erreicht und mit der territorialen Einheit des Staates in Einklang gebracht werden.

Seit dieser Zeit läßt sich der Verfall der regionalen Sprachen in einer einfachen Feststellung ausdrücken: Im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts gibt es auf dem Territorium Frankreichs in jedem Jahr weniger Sprecher, die mit ihren Kindern in der Sprache reden, in der sich ihre Eltern noch mit ihnen unterhielten.

Die Gründe für diesen langsamen Niedergang sind vielfältiger Natur. Außer dem bereits erwähnten Klassenfaktor, der nie aufgehört hat, eine Rolle zu spielen, hat vor allem der Modernisierungsprozeß die Verwendung der regionalen Sprachen gehemmt. Während 1863 noch ein Viertel der Bürger Frankreichs kein Französisch sprach, stellten die Einführung der Schulpflicht und des Wehrdienstes einen entscheidenden Wendepunkt dar: Der Gebrauch der Regionalsprachen an den Schulen war verboten, und in der Armee waren sie unbrauchbar. Später trug das Fernsehen das Seine zu diesem Prozeß bei.

Im Laufe der Jahrhunderte sind die regionalen Sprachen und ihre Sprecher, die man übrigens am besten "unterdrückte sprachliche Minderheiten" oder "bedrohte kulturelle Gemeinschaften" nennen sollte, immer wieder abgelehnt und bedrängt oder im besten Falle dann geduldet worden, wenn sie ihre Tätigkeit auf rein literarisches Gebiet beschränkten. Diese Ablehnung hat eine Trennung der französischen Bürger in zwei Kategorien bewirkt – diejenigen, die das Recht hatten, im öffentlichen Leben ihre Muttersprache zu gebrauchen (Französisch), und diejenigen, die nicht über dieses Recht verfügten und sich einer anderen Sprache bedienen mußten (ebenfalls Französisch). Diese Übernahme von Sprache und Kultur hat zum klassischen Krankheitsbild der Kolonisation geführt: das schlechte Gewissen, die Verdrängung eines Unterschiedes, der als Stigma erlebt wurde, Selbstablehnung und Selbsthaß, die Leugnung der eigenen Identität. Die Bevölkerung der Regionen, die eine besonders stark ausgeprägtes Eigengefühl haben, fand sich in der Position von Kolonisierten wieder – oder auch in der von adoptierten Kindern, denen man ihre wahre Identität vorenthielt und die eines Tages entdecken, daß man sie über ihre Herkunft getäuscht hat.

"Was an der Sprachpolitik der Jakobiner bemerkenswert ist, ist die Tatsache, daß sie sich durch die Verschiedenheit von etwa 15 Regierungsformen, die Frankreich nacheinander in zwei Jahrhunderten gehabt hat, hindurchzieht", so Roland Breton. Die Jakobinerpartei wurde von verschiedenen konkurrierenden Ideologien gepriesen oder verflucht, aber das in den Augen der Nachwelt Markanteste an ihrem Erbe – der Ausschließlichkeitsanspruch des Französischen – wird von allen anderen Denkschulen, welche Macht ausübten oder danach einigermaßen erfolgreich strebten, begrüßt und übernommen – sowohl in der Praxis als auch in der Theorie. Von der äußersten Linken bis zur äußersten Rechten blieben alle französischen Parteien unveränderlich Jakobiner.

 

Alain de Benoist ist Herausgeber der Zeitschriften "Nouvelle Ecole" und "Krisis". Der Text basiert auf einem Vortrag, den er am 17. Februar bei den Bogenhausener Gesprächen der Burschenschaft Danubia in München gehalten hat. Die Übersetzung besorgte Dirk Adlung.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen