© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    11/01 09. März 2001

 
Den Ernstfall spielen
Kino: "Das Experiment" von Oliver Hirschbiegel
Silke Lührmann

Endlich liegt die Eskalation von "Big Brother" und "Girlscamp" vor – bislang allerdings erst als Spielfilm: Das psychologische Institut der Universität Köln sucht per Zeitungsanzeige zwanzig männliche Versuchspersonen für ein Experiment im Scheingefängnis. Zwölf von ihnen sollen Häftlinge spielen, acht – vom Computer ausgelost, aber im Film natürlich wohldurchdacht besetzt – werden als Wärter mit Gummiknüppeln und Handschellen ausgerüstet. "Das Experiment" von Oliver Hirschbiegel basiert auf Mario Giordanos Roman "Black Box". Diesen wiederum inspirierte ein Versuch, der 1971 an der kalifornischen Stanford University nach sieben Tagen abgebrochen wurde, weil er tödlich auszugehen drohte.

Für 4.000 Mark verzichtet man als "ganz normaler Kerl" – als Kioskbesitzer, beleibter Elvis-Imitator oder Bodenpersonal bei einer Fluggesellschaft – gern einmal vierzehn Tage lang auf bürgerliche Grundrechte und Privatsphäre. Für Tarek (Moritz Bleibtreu), den ehemaligen Journalisten, der jetzt Taxi fährt, geht es sogar um 14.000, denn er hat mit seiner alten Redaktion ein großzügiges Honorar für eine Reportage ausgehandelt. Zu diesem Zweck stattet er sich mit einer in eine Brille eingebauten Spezialkamera aus, deren Schwarzweiß-Perspektive den Film leider weder optisch noch thematisch sonderlich bereichert.

Die auf ominöse Weise in das Experiment verwickelte Bundeswehr stiftet nicht nur Gelder, sondern auch Decken und einen eisenharten Luftwaffenmajor (Christian Berkel), der – ebenfalls "undercover" – "beobachten und Bericht erstatten" soll. Als guter Soldat weiß er sich in Herrschaftsstrukturen einzurichten und hat nur ein müdes Lächeln für die Versuche seiner Mitgefangenen, sich gegen die allzu willkürliche Machtausübung der Wärter aufzulehnen. Ihm ist als einzigem klar, daß die tröstliche Gewißheit, die Haftbedingungen seien nur Simulation – ein Spiel, das man jederzeit beenden kann –, Unsinn ist, denn: "Es gibt nur den Ernstfall." Die Logik des Films lautet zunächst anders: Die postexistentielle Zivilgesellschaft kann den Ernstfall nur als Simulation, als Spiel erfahren. Weniger ernst macht ihn das nicht.

Am ersten Abend werden noch dumme Witze durch die Gitterstäbe erzählt, als wäre man auf Klassenfahrt: "Warum schauen Frauen Pornofilme immer bis zum Ende? – Weil sie denken, daß am Ende geheiratet wird." Zur Krise führt bezeichnenderweise nicht etwa der Entzug, sondern der Überfluß: die Regel nämlich, die besagt, "Mahlzeiten sind vollständig aufzuessen". Die verunsicherten Wärter basteln sich aus zufällig Angelesenem eine Erniedrigungsstrategie zusammen, die zunächst ohne körperliche Gewaltanwendung im strengen Sinn auskommt. Der betreuende Professor (Edgar Selge) ist begeistert, seine attraktive Assistentin (Andrea Sawatzki) besorgt. Einen gefesselten Mann kahlzuscheren und zu bepinkeln liegt allzu dicht an der Grenze zur Barbarei, findet sie, während der Professor von "vorbildlicher Deindividualisierung" schwärmt. Anfangs ist den Wärtern der eigene Sadismus sichtlich peinlich, doch mehr und mehr entsinnen sie sich der Würde ihrer Uniformen. Vor allem Berus (Justus von Dohnànyi) , der ständig schwitzende Flughafenlakai, wächst in seine Rolle hinein und über sich selbst hinaus.

Der Appell an das entmenschlichte Kontrollzentrum wirkt vor lauter Symbolik schon wieder banal: Der Himmel ist leer, Gott anderweitig beschäftigt, und Überwachungskameras können keine Ethik. Zum Glück gibt es da noch Dora (Maren Eggert), die nach einer einzigen gemeinsamen Nacht so sehr auf Tareks Wellenlänge ist, daß sie seine Bedrängnis sofort spürt und ihm schließlich gar zu Hilfe eilt. So tollen Sex hätten die Zuschauer auch gern mal, und deshalb wird jedesmal zu Doras langen Beinen in schwarzer Wäsche geschnitten, wenn es im Gefängnis gerade zu bedrückend ist. Das soll wohl zeigen, wie Tarek aus der zunehmend unerträglichen Realität in eine Phantasiewelt der Obsessionen flieht, bewirkt aber lediglich eine ärgerliche – und überflüssige – Zerstreuung der sorgfältig aufgebauten Spannung.

Der dramatische Höhepunkt zieht sich zu sehr in die Länge; nur die versuchte Vergewaltigung mit Schlager hat etwas widerlich Komisches. Trotzdem lohnt es sich, den Film zu Ende zu sehen. Denn es wird zwar viel schwer geatmet, aber zum Schluß doch (fast) geheiratet.

"Das Experiment" begann in einer neondurchleuchteten Kölner Regennacht, deren Rhythmen durch Schnitt und Musik mindestens so aggressiv dargestellt werden wie die Stimmung im Scheingefängnis. Ansonsten beschränkt sich die Außenwelt des Films auf die institutionelle Ungemütlichkeit der Universität mit ihren leeren Gängen und der automatenbestückten Cafeteria. Die einzige Oase der Ruhe, Schönheit und Besinnung in dieser häßlichen, hektischen Welt ist das Haus von Doras gerade verstorbenem Vater an der holländischen Küste: helle weite Räume, gute Bücher, Wein und gutes Essen; den Abspann begleitet ein fröhliches Lied der Beach Boys. Na also, es gibt doch nicht nur den Ernstfall!


 
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