© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    11/01 09. März 2001

 
Lenins Reisemarschall
Elisabeth Heresch: Geheimakte Parvus. Die gekaufte Revolution
Jessica Rohrer / Moritz Schwarz

Der Fachmann schlägt das Buch von Elisabeth Heresch über Alexander Helphand (genannt "Parvus") auf und prüft natürlich zuerst, wie es um den wissenschaftlichen Apparat bestellt ist. Kurz gesagt: schauerlich, da es keinen Anmerkungsteil, kein detailliertes Quellenverzeichnis und nicht einmal eine alphabetisch geordnete Bibliographie enthält.

Das ist schon keine Empfehlung für ein Werk mit zeithistorischem Anspruch. Und der negative Eindruck verfestigt sich bei der Lektüre. Frau Heresch liefert eine Biographie des russisch-jüdischen Revolutionärs, Publizisten und Geschäftsmanns Parvus, dessen welthistorische Bedeutung sich aus dem Umstand ergibt, daß er es war, der die deutsche Reichsleitung seit 1915 zu einer Politik der Subversion im Zarenreich drängte, was schließlich dazu führte, daß Lenin und andere bolschewistische Funktionäre im sagenumwobenen "plombierten Zug" durch Deutschland nach St. Petersburg fahren durften – der wichtigste Schritt zur "Oktoberrevolution".

Frau Heresch verspricht, anhand neuer Aktenfunde aus Moskauer Archiven das "Geheimnis" um die Person von Parvus und die mit deutschem Geld finanzierte ("gekaufte") russische Revolution zu lüften. Tatsächlich hat sie die Aktivitäten von Parvus, seine Beziehungen zu deutschen Diplomaten, das Netz seiner Agenten im Zarenreich und sein Verhältnis zu den Scharen von sozialrevolutionären Todfeinden des Zaren in der westeuropäischen Emigration im Spiegel der Akten des russischen Geheimdienstes hell ausgeleuchtet. Aber die von ihr erschlossenen Quellen zeichnen kein neues Bild. Sie bestätigen nur, was wir seit der umfangreichen, fast 400 eng bedruckte Seiten umfassenden Studie von Winfried B. Scharlau und Zbynek A. Zeman über den "Freibeuter der Revolution" (Köln 1964) seit langem wissen. Und leider ist auch zu konstatieren, daß sich die Autorin aus diesem Standardwerk doch recht großzügig, mitunter bis zur wörtlichen Übernahme ganzer Absätze gehend, bedient und dies – eben mangels Anmerkungsapparat – nicht kenntlich macht.

Immerhin ist der Autorin aber zu- gute zu halten, daß sie den schwierigen Stoff durch ihre Bearbeitung einem weit größeren Publikum erschließt, als dies bei mit umfangreichem Anmerkungesapparat belasteten Werken der Fall ist.

Zu spüren ist ihr besonderes Interesse über die Ereignisse, Zusammenhänge und Hintergründe hinaus am Menschlichen als Faktor für die Geschichte. Dahinter verbirgt sich mitnichten Historien-Klatsch. Gemeint ist die stets menschliche Motivation, die meist in ernüchterndem Gegensatz zu der aus ihr hervorgehenden großen Geschichte steht. Etwa die Gier nach Reichtum, die für Parvus nach anfänglichem Idealismus bald zum alles überschattenden Antrieb wird.

Ernüchternd auch zu sehen, in welchem Maße die von der Revolutions-romantik verklärte "Erhebung der Massen" in Wirklichkeit das Ergebnis niedriger Aufstachelei war. Auch das ist nichts Neues, doch wie banal und hinterhältig es sich tatsächlich verhielt, wird durch eine atmosphärische Schilderung eben deutlicher als durch reine Faktendarstellung.

Nach 1917 fiel Parvus übrigens bald in Ungnade. Der sowjetischen Geschichtsschreibung galt er von nun an schlicht als "Agent des deutschen Imperialismus". Bis heute gilt er in Rußland als zweifelhafte Gestalt, weshalb der in Vorbereitung befindlichen Übersetzung des Buches ins Russische mit Spannung entgegengesehen werden kann.

 

Elisabeth Heresch: Geheimakte Parvus. Die gekaufte Revolution. Biographie. Langen Müller, München 2000, 400 Seiten, 57 Abb. und Dokumente, 49,90 Mark


 
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