© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    11/01 09. März 2001

 
Die verpaßte preußische Chance
von Albrecht Jebens

Welche Chance auf Neubelebung preußischer Werte gibt es heute angesichts der sich abzeichnenden Herstellung eines europäischen Staatenverbunds, in dem Deutschland seine ohnehin reduzierte Souveränität zu weiteren Teilen abgibt? Und was soll die Idee Preußens noch angesichts eines ökonomischen und politischen Globalismus, der die europäischen Nationalstaaten als Subjekte der Politik entthront und sie zu Objekten herabsinken läßt?

Es mag widersinnig sein und ist gegen den Zeitgeist gerichtet, wenn man sich vor dem Hintergrund dieser Fragen mit der Idee Preußen, mit seinen Werten, mit seinem Staatsethos befaßt. Und doch ergibt dies Sinn. Denn gerade heute, da junge Internetfirmen, junge Amateure ohne Anlage- und Umlaufvermögen, wohl aber mit haushohen Schulden an die Börse gehen und bewährte Aktiengesellschaften überflügeln, ist die Notwendigkeit, die Lebensberechtigung einer auf Werte gegründeten Gemeinschaft erst recht nicht von der Hand zu weisen, und zwar genau dann, wenn bei einem weltweiten Börsenkrach der ökonomische Goldflitter in alle Winde verfliegt und sich nicht nur Katzenjammer ausbreiten dürfte, sondern wirtschaftliche und politische Großkrisen entstehen dürften, denen die auf ihr wirtschaftliches Individualwohl fixierten Bürger nichts an inneren Werten entgegenzusetzen hätten. Ein Wort des Staatsmannes Gustav Stresemann mag das treffend beleuchten: "Solange wir nicht von dem Geist der Wechselstuben zu dem Geist des alten Preußen, der sittlichen Weltauffassung zurückkehren, solange haben wir kein Recht auf Wiedergeburt und Wiederauferstehung Deutschlands".

Was war also Preußen? Welches waren seine Werte, seine Tugenden, die uns heute fehlen? Plastischer und lebensvoller als trockene Theorien möge das eine wahre Begebenheit aus dem Militär veranschaulichen. Die folgende "zeitlos gültige Geschichte über den Mut" läßt besonders eindrücklich Preußens Werte, sein Prinzip, sein Ethos deutlich werden.

Im Winter 1878/79, nach dem Berliner Kongreß, von dessen Ergebnis vor allem Rußland enttäuscht war, lud Kaiser Wilhelm I. zu den alljährlichen Hoffestlichkeiten in das Berliner Schloß nicht nur den Adel, Botschafter, Diplomaten und Generäle ein, sondern auch junge, nach Berlin abkommandierte Offiziere, so auch einen bürgerlichen Premierleutnant namens Schmidt vom Infanterieregiment 48 aus Küstrin. Dabei geschah diesem beim Wegtreten vom Büffet das Mißgeschick, mit vollem Schwung auf die Lackschuhe des russischen Botschafters zu treten, der laut aufschrie und zum Entsetzen der Hofgesellschaft den unglücklichen Leutnant mit den fürchterlichsten Verbalinjurien beschimpfte, worauf dieser das Fest verließ, zurück nach Küstrin fuhr, den Vorfall seinem Regimentskommandeur meldete und ihn um die Erlaubnis bat, den russischen Botschafter auf Pistolen fordern zu dürfen. Das lehnte dieser mit Blick auf die politische Lage genauso ab wie danach der Brigadekommandeur und dann der Divionskommandeur in Frankfurt/Oder. Als einige Tage darauf aber der Kommandierende General des II. Armeekorps, General Constantin von Alvensleben, in Berlin den Beschwerdebrief des Leutnants erhielt, holte er den Leutnant aus Küstrin ab und fuhr mit ihm zum russischen Botschafter, erklärte diesem unter vier Augen die Lage und überbrachte auch die Duellforderung. Dem Russen war das ausgesprochen peinlich, und als der Leutnant hinzugebeten wurde, entschuldigte sich der Botschafter beim jungen Offizier in aller Form für sein ungebührliches Verhalten. Die Ehre des Leutnants war damit wiederhergestellt. Aber nachdem der General den Kaiser von dem Vorfall unterrichtet hatte, ließ dieser tags darauf den Regiments-, Brigade- und Divisionskommandeur in den Ruhestand versetzen, weil sie nicht für die Ehre des ihnen unterstellten Offiziers eingetreten waren.

Noch heute beeindruckt an dieser Begebenheit nicht nur der Mut und die Beharrlichkeit des Leutnants, sondern vor allem sein Glaube an den Ehrenkodex der Armee und der Mut des Generals, sich eben auch für einen ihm völlig unbekannten nichtadeligen Leutnant eines namenlosen Linienregiments einzusetzen. Bei der Bundeswehr und der politischen Führung unserer Tage wäre solch ein Ausgang in ähnlicher Angelegenheit völlig undenkbar.

Aus dem Vorfall mit dem Leutnant leuchten Begriffe zu uns hinüber wie Mut, Moral, Ehre, Glaube, sauberer Staat, Unbestechlichkeit und selbst Mut vor Königsthronen; Tugenden, die ein irregeleiteter Zeitgeist zu "Sekundärtugenden" abgewertet hat. Doch wenn wir die Folgewirkungen der heutigen "Primärtugenden" Dialogbereitschaft, Emanzipation, Selbstverwirklichung, Kreativität, Spontanität und Spaß in Gestalt der nicht endend wollenden Affären, Bestechungen, Veruntreuungen, Lügen und Betrügereien und der unersättlichen Selbstbedienung der "Elite" in Politik und Wirtschaft sehen, die eben nicht lediglich Ausdruck einer "Filzokratie" sind, sondern eines wertemäßig völlig entleerten politischen Systems und des Zusammenbruchs geistig-ethischer und religiöser Normen, dann stellt sich um so dringlicher die Frage, ob es nicht doch unversiegbare geistige Quellen für uns heute gibt.

So sagte Friedrich der Große über die Pflichten des Staatsmannes: "Dies sind im allgemeinen die Pflichten, die ein Fürst zu erfüllen hat. Damit er niemals von ihnen abirre, muß er sich oft ins Gedächtnis zurückrufen, daß er ein Mensch ist wie der geringste seiner Untertanen. Er ist nur der erste Diener des Staates. Er ist verpflichtet, mit Redlichkeit und vollkommener Uneigennützigkeit zu handeln, als sollte er jeden Augenblick seinen Mitbürgern Rechenschaft über seine Verwaltung ablegen. Er macht sich schuldig, wenn er das Geld des Volkes, den Ertrag der Steuern in Luxus oder Ausscheifungen vergeudet, er, dem es obliegt, über die guten Sitten, die Hüterinnen der Gesetze, zu wachen und die Volkserziehung zu vervollkommnen, nicht aber sie durch schlechte Beispiele noch zu verderben."

Und weiter heißt es beim großen Preußenkönig, direkt an die heutige Politik gerichtet: "Jeder will Reichtümer anhäufen. Sie zu erwerben, werden die rechtswidrigsten Mittel angewandt. Die Korruption greift um sich, schlägt Wurzeln und wird allgemein. Die Talente, die sittenreinen Leute werden mißachtet und die Welt ehrt nur die Bastarde des Midas, die mit ihren reichlichen Geldausgaben, ihrem Prunk sie blenden. Sittenverderbnis, herausfordernde Freiheit des Lasters, Verachtung der Tugend und derer, die sie verehren, Eigennutz anstelle des Gemeinsinne – das sind die Vorboten des Verfalls der Staaten und des Untergangs der Reiche."

Die Frage nach der Gültigkeit preußischer Werte in heutiger Zeit muß vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Lage in Deutschland gestellt werden. Diese ist von Mutlosigkeit und Lähmung und von zügelloser Selbstverwirklichung der alternden "Spaßgesellschaft" gekennzeichnet, die in den Veitstänzen der "Love Parades" ihre orgiastische Selbstzerstörung feiert. Der eines jeden Extremismus unverdächtige Kölner Erzbischof Meissner hat die innere Lage unseres Landes als "die größte Dekadenz, die jemals in Deutschland geherrscht hat" bezeichnet. Dabei ist die langandauernde Massenarbeitslosigkeit nur das optisch herausragende Merkmal dieser Lage; sie muß vielmehr vor dem Hintergrund der übrigen Kennzeichen als Ausdruck des geistigen, identitären, kulturellen und religiösen Niedergang in allen Bereichen gesehen werden, schließlich auch angesichts der Unfähigkeit von Politik und Wirtschaft, hier durchgreifend Remedur zu schaffen. Das geht auch nicht wegen der unvorstellbar hohen Staatsverschuldung von 2,5 Billionen Mark.

Schlimmer jedoch sind die anderen Symptome, so die vom Volk apathisch hingenommene Einführung der mehrheitlich nicht gewollten europäischen Einheitswährung, der besorgniserregende Sicherheitsschwund durch die Zunahme der Jugendkriminalität, vor allem der Organisierten Kriminalität im Zusammenhang mit dem nahezu ungebremsten Zustrom von Asylanten und Wirtschaftsflüchtlingen aus kulturfremden Ländern mit einhergehendem Rauschgift- und Frauenhandel. Letzterer ist eine moderne Form des Sklavenhandels, den die Politik allem Anschein weder unterbinden will noch kann. Die Lage verschlimmert sich dramatisch aber durch den Geburtenschwund des deutschen Volkes bei gleichzeitiger Zunahme der vorgeburtlichen Kindstötung, die – ein Novum in der deutschen Rechtsgeschichte – als straffrei gilt und sogar noch finanziert wird.

Diese Zustandsbeschreibung unserer Gegenwart wird dramatisiert durch die Zunahme der Sektenbewegungen und des Islam, durch die Aufweichung der Kirchen, den Schwund der Gedanken-und Publikationsfreiheit und die Politisierung der Justiz, schließlich sichtbar tagtäglich durch den Verfall unserer Sprache zu einem angloamerikanischen "Engleutsch" und die damit einhergehende Amerikanisierung unserer Fernseh- und Rundfunkprogramme, vor allem im Werbe- und Musikbereich. Insgesamt befinden wir uns in einer geistig-kulturellen Großkrise, die beim Auftreten von wirtschaftlichen Verteilungskämpfen binnen kurzem nicht nur die Demokratie zerstören dürfte, sondern unser Volk. Kann uns hier der Rückgriff auf Preußen noch irgendwelche Hilfen bieten?

Die Staatslehre und Staatsbildung zu Beginn der Neuzeit in Europa gingen von aktuellen politischen Forderungen aus, die weder von der Kirche im damaligen Verfallsprozeß noch vom machtlos gewordenen Imperium sacrum mit ihren mittelalterlichen Institutionen erfüllt werden konnten. So suchte sich der moderne Territorialstaat als neue politische Einheit im weltlichen Bereich zu legitimieren durch die Einigung, Befriedung und Herstellung einer Ordnung, deren Entwicklung, Mehrung und Erhaltung. Am Anfang stand also die Überwindung der politischen Anarchie. Diese Herausforderung traf nahezu ganz Europa und fand in Italien, England und Frankreich mit den Staatsdenkern Machiavelli, Hobbes und Bodin bei Rückgriff auf die antiken Philosophen Livius, Thukydides, Platon und Aristoteles jeweils verschiedene Antworten auf die vier dringendsten Herausforderungen:

1. Herausbildung des Herrschers als absoluter im Sinne des Gemeininteresses.

2. Politische Entmachtung der Stände und ihr Einbau als aktive Träger in den Staat

3. Konfessionelle Neutralität des Herrschers zwecks Herausbildung ungeteilter Staatsmacht

4. Erziehung des Volkes durch den Staat zur Nation

Der Erfolg Preußens beruhte auf der staatsbildenden Antwort auf diese vier Fragen. Entscheidend war dabei die Voraussetzung, daß auf dem kargen Boden der Mark Brandenburg nach dem Dreißigjährigen Krieg, als das machtlose Reich eine Beute der europäischen Großmächte geworden war, gerade hier, in der Mitte des verheerten, verarmten Deutschlands, die Sehnsucht nach einer neuen festgefügten Ordnung lebendig geblieben war. Diese Sehnsucht fand in der Politik des Kurfürsten Friedrich Wilhelm, des Großen Kurfürsten, nicht nur einen glänzenden Vertreter, der fast fünfzig Jahre (1640–1688) regierte; vielmehr traten in seiner Nachfolge mit den Königen Friedrich Wilhelm I. und Friedrich dem Großen zwei weitere überragende Monarchen auf, so daß der brandenburgisch-preußische Staat sich in einer 150jährigen Kontinuität von 1640 bis 1786 als moderner absoluter Rechts- und Militärstaat herausbilden konnte.

Das Ergebnis der Politik der Preußenherrscher zwischen 1640 und 1786 ist die Herausbildung der preußischen Staatsidee als Staat der Vernunft, der Pflichttreue, der Schlichtheit und des Rechts gewesen, Grundlagen, die den preußischen Staat selbst weit überdauert haben, bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein. Preußen entstand aus der Idee des Staates hinaus, war es doch zunächst kein zusammenhängendes Land, ohne Volk und einheitliche Religion. So wurde Preußen "mehr als jeder andere Staat genötigt, seine innere Vielfalt anzuerkennen und jedem Landesteil das Seine zu lassen. Die preußischen Könige duldeten nicht nur die drei Konfessionen lutherisch, calvinistisch und katholisch, sondern förderten sie ausdrücklich. Sie verlangten nur politischen Gehorsam (keinen ’Kadavergehorsam‘) und sahen sich selbst in der Friedenspflicht; sie verboten gleichwohl Kontroverspredigten und Kanzelhetze". Sie maßen ihre Untertanen nach Arbeit und Leistung; mehr noch: sie machten unter der Losung travailler pour le Roi de Prusse aus Untertanen Preußen. Das war und bleibt die vielleicht größte Leistung Preußens.

Es ist nicht schwer, sich die Werte Preußens gleichsam wie aus einem Rosinenkuchen herauszupicken, um sie für die heutige Zeit nutzbar zu machen. Und doch entbehren sie dann des unverzichtbaren Zusammenhangs aller Lebensbezüge in ihrer Zeit. Dies vorausgestellt, muß sich erweisen, ob preußische Werte heute noch neu belebbar sind.

Die Toleranz aus Vernunft ist der preußische Wert, der heute am ehesten noch als positives preußisches Erbe gesehen und für die Gegenwart bemüht wird. Doch anders als heute verwendeten die Preußenkönige das Toleranzedikt, weil sie in der Einwanderung von Deutschen aus Salzburg, von Flamen, Wallonen, Hugenotten einen Nutzen des Staates sahen und weil die Neuankömmlinge arbeiten mußten und wollten und die preußischen Gesetze achteten. Heute hingegen vertritt der Staat die Toleranz einer weltverbessernden Ideologie, indem er zum Nachteil des Volkes die Einwanderung kulturfremder, nicht assimilierbarer Völker begünstigt mit allen daraus abzusehenden Konfliktpotentialen von der Herausbildung ethnisch-sozialer Ghettos und Parallelgesellschaften bis hin zu Bürgerkriegsszenarien.

Die Staatsräson Preußens in der hierarchisch gegliederten Gesellschaft des aufgeklärten Absolutismus bestand in einer genialen Kombination von Menschenrechten für das Individuum und zentralisierter Entscheidungsbefugnis für den Monarchen, wobei die Staatsräson des Rechts dem König als dem ersten Diener seines Staates Schranken setzte,wie der berühmte Müller-Arnold-Prozeß zeigte, als Friedrich der Große, der auf Seiten des Müllers stand, den Richtern unterlag. Sein Ausspruch, daß "ein Justizkollegium, das Ungerechtigkeiten begeht, gefährlicher und schlimmer als eine Diebeshande" sei, begründet am deutlichsten die Staatsräson des Rechts. Individuum und Krone korrigierten sich gegenseitig aus einer Balance heraus. Mit dieser Staatsräson gelang es Preußen, die Stände und Adelsfamilien in den sittlich und rechtlich gebundenen Staat zu integrieren.

Die Loyalität aus innerer Zustimmung, ohne Willfährigkeit, entwickelte sich aus dem Pflichtenkanon des Herrschers, den dieser vorlebte und damit sein Staatsvolk prägte. Preußen als ein an Bodenschätzen und Bevölkerung armer Staat wurde Großmacht, weil er an innerer Haltung stark wurde. Die Verpflichtung auf die Staatsräson, die allgemeine Selbstbeschränkung, der gelebte Ehrbegriff und die absolute Loyalität dem König gegenüber bei Hintanstellung der eigenen Belange fand,wie schon erwähnt, ihren prägenden Ausdruck darin, es als Ehre zu betrachten, für den König von Preußen zu arbeiten. Den preußisch-blauen Rock des Königs zu tragen war innere und äußere, freudig und stolz gelebte Verpflichtung aus innerer Loyalität. So entstand nicht nur im Militär, sondern auch in der Beamtenschaft ein esprit de corps, ein Korpsgeist, der sich bis ins zivile Leben hinein erstreckte und dem preußischen Staat eine Wahrhaftigkeit und Belastbarkeit verlieh, was sich in allen späteren Notzeiten segensreich auswirken sollte.

Das Recht schließlich, wie es im Preußischen Landrecht von 1794 kodifiziert wurde, bildete ein getreues Innenbild des aufgeklärten absoluten preußischen Staates. Im Mittelpunkt stand die Erkenntnis, daß Macht kein Besitzmittel dessen ist, der Macht innehat, sondern ein Amt. Im Amt aber sind die Rechte nicht nur an die Pflichten gebunden, sondern leiten sich von diesen ab. Die Obrigkeit, so der Kernbestandteil dieses von Friedrich dem Großen noch in Auftrag gegebenen Gesetzwerkes, hat die Rechte lediglich zur Erfüllung ihrer Pflichten inne. Deshalb genießt die Pflicht den Vorrang, weil sie die Rechte erst begründet. Herrschaft legitimiert sich also in der Ausübung von Pflichten. Somit setzte sich der preußische Staat selbst Schranken seiner Macht. Diese Schranken waren aber auch durch den strengen calvinistischen Glauben gesetzt in der Anerkennung von Gottes Geboten, seiner Gnade und seinem Gericht. Gottes Gebote letzthin wurden als Fundamente der Ordnung und der Autorität des Staates verstanden, denen sich auch der König zu unterwerfen hatte. Dadurch erhielten die preußischen Gesetze eine objektive Gültigkeit und prägten das Bild vom Preußen vorbildhaft bis heute. Es ist mehr als bemerkenswert, daß in diesem Gesetzeswerk die ungeborenen Kinder in ihrem Lebensrecht genauso geschützt waren wie die geborenen. Preußen wurde also durch seine absoluten Monarchen bereits Rechtsstaat, als es noch keine Verfassung hatte.

Im Vergleich dazu ist das heutige Strafrecht und das von den Westalliierten vorgegebene Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (nicht der Bundesrepublik!), das die Rechte vor die Pflichten, das Individualwohl vor das Gemeinwohl stellt und das Selbstbestimmungsrecht der werdenden Mutter vor das Lebensrecht des ungeborenen Kindes, eine nahezu völlige Auf-den-Kopf-Stellung des preußischen Landrechts mit den allseits bekannten Folgen.

Für die Einigung Deutschlands hat Preußen nicht nur Ströme von Blut vergossen, sondern sich selbst als Opfer gebracht. Die Größe dieser Leistung ist aus der Summe der Widerstände zu bewerten. Bismarck wußte, daß Deutschland entweder preußisch zustande kommen oder aber staatenlos bleiben würde. Preußen schließlich konnte das Reich erneuern, weil, wie Treitschke einmal bemerkte, nicht ein Genie diesen Staat gebaut hatte, sondern "der Charakter". Der preußische Publizist Reinhold Wulle faßte dies 1935 in die unnachahmlichen Worte: "Preußentum ist eine Haltung geworden, ein Lebensstil, eine Ausdrucksform des Deutschtums, ist ein ewiges Bereitsein, ein ewiges Gefährdetleben. Es ist ein Auftrag, der nie zu Ende geht, der jeden Tag neu geboren wird. Nicht der Erfolg der Arbeit als Ruhm und Genuß bestimmen das Leben, sondern der Rang. Der Lohn für Pflichterfüllung ist die Rangerhöhung, die Erhöhung der Verantwortung. Der Preuße nimmt die Arbeit als Auftrag und nicht als Last. Die Preußen tragen des Königs Rock. Welch eine Staatsauffassung liegt in diesem Wort. Diener das Staates sind alle, und der König ist der erste. Es ist eine Gemeinschaft, dieses Volk, ein " Wir".

Auch wenn die Bundesrepublik von Anfang an als Gegengründung zu Preußen angelegt war, so strahlen bis heute preußische Werte auf unser Volk und den Staat hinüber, die insgesamt wurzeln in der Tradition der Revolutionsverneinung. Deutschland wurde durch den preußischen Staat bis heute revolutionsfest gemacht. So versteht sich alle deutsche Politik, auch von seiten parlamentarischer und außerparlamentarischer Opposition her, immer als Reformpolitik. Der Bürgerkrieg im Gefolge von Revolutionen ist schlimmer als die Tyrannis; deshalb vielleicht ist auch der Aufstand der preußischen Adeligen am 20. Juli 1944 mißglückt. Die Staats-treue der Bürger, ihr unbedingter Glaube an die Rechtschaffenheit der Regierenden ist ein weiteres, stabiles, den Staat garantierendes Element. Diese Staatsgesinnung aus lutherischen, calvinistischen und pietistischen Zügen hatte bereits vor 1918 die Katholiken und Arbeiter für den Staat gewonnen und selbst noch nach 1945 den raschen Wiederaufbau in den Nachkriegsrepubliken ermöglicht. Schließlich trägt auch der innere Aufbau, die Verwaltungsgerichtsbarkeit bis heute preußische Züge, während die Bundeswehr jede wirklich lebendige preußisch-deutsche Armeeüberlieferung abgelehnt hat.

Es dürfte unstrittig sein, daß damit bis in unsere Gegenwart hinein preußische Werte und Tugenden unseren Staat stabilisieren. Preußen ermahnt mit seinem Ehren- und Sittenkodex, mit seinem Charakter und seiner Rechtsstaatlichkeit selbst über 50 Jahre nach seiner Auslöschung unzählige Bürger immer noch zu energischer Selbstbehauptung, zu innerer Haltung, zur Wertschätzung von Arbeit, zu Sparsamkeit, Schlichtheit und Bescheidenheit. Alle diese "Sekundärtugenden" blühen oft nur noch im Verborgenen; sie bewähren sich aber immer noch als Bindemittel in der Gesellschaft des citoyen, des selbstbewußten wachen Bürgers.

Es ist indessen die Tragik, daß preußische Charaktere in der Politik, in der Kultur, im Militär nicht nur nicht zum Zuge kommen, sondern konsequent ausgegrenzt oder neutralisiert werden, so daß der sich abzeichnenden Auflösung unseres Gemeinwesens nicht wirksam begegnet werden kann, auch und gerade nicht von den Parteien her. Die politische Klasse unseres Landes hat sich von dem Bewußtsein einer Volksvertretungsherrschaft schrittweise immer weiter entfernt; sie versteht sich im Grunde genommen bereits als Oligarchie und nimmt nun die Züge einer Ochlokratie an, wobei diese unübersehbar deutlich teilweise anarchische, teilweise totalitäre Merkmale trägt.

Es stellt sich daher die Frage, wie und von wem das Gemeinwohl heute noch wirksam definiert werden kann. Immerhin ist solch ein Interesse vom Verfassungsschutz bereits zu einem Kriterium verfassungswidrigen Denkens erhoben worden. Die Folgen dieser Gemeinwohlverweigerung werden alle Bürger eines Tages zu bezahlen haben, und zwar dann, wenn die Zustände denen gleichen wie am Ende des Mittelalters mit der Auflösung der damaligen religiös getragenen Gesellschaftsordnung.

Das Hauptproblem besteht jedoch darin, daß das Preußische nicht beliebig verfügbar ist, nicht wie ein Lichtschalter wieder eingeschaltet werden kann, nachdem es jahrzehntelang abgeschaltet war. Die preußischen Werte müssen, um ihnen wieder Geltung zu verschaffen, über den privaten Lebensbereich hinaus wieder zu Staatstugenden erhoben, gelebt, vorgelebt, durchgesetzt werden. Das würde den Umbau unseres Staates bedeuten, einen Umbau, den zu denken oder gar zu propagieren heute schon eo ipso als "verfassungsfeindlich" gelten kann. Unser Staat müßte nach dem Vorbild des preußischen Absolutismus reformiert werden zu einer absoluten Republik mit einem Präsidenten an der Spitze. Er müßte die Einheit von Souveränität und Repräsentation in seiner Person verkörpern und mit einem Kabinett von Fachministern regieren, die er einsetzen und auswechseln könnte. Hinter den Ministern müßten Kammern stehen, die zur Hälfte bestellt und zur Hälfte durch die zugehörigen Verbände gewählt werden müßten. Insgesamt müßte die ehedem fruchtbare Spannung zwischen Gemeinwohl und Individualwohl wieder neu befestigt werden, müßten die Pflichten den Vorrang vor den Rechten haben.

Es war nicht nur ein Versäumnis, sondern ein politischer Fehler ersten Ranges, daß die politische Klasse der Bundesrepublik den Zusammenbruch der DDR und die Wiedervereinigung nicht für eine Renaissance nationaler Politik auf der Grundlage Preußens genutzt hat.

 

Dr. Albrecht Jebens ist Historiker und war zuletzt Geschäftsführer der Stiftung Ostdeutscher Kulturrat in Bonn.


 
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