© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    12/01 16. März 2001

 
Kolumne
Verfassung
Hans-Helmuth Knütter

"Verfassung" – das ist ein doppeldeutiger Begriff. Umgangssprachlich sagt man, "Ich bin in guter oder schlechter Verfassung". Auf Staat und Gesellschaft angewendet, meint das Wort zunächst den Text des Staatsgrundgesetzes, aber auch den Zustand, in dem sich Staat und Gesellschaft befinden, also die Verfassungswirklichkeit. Verfassungswort und Verfassungswirklichkeit sollen im Idealfalle übereinstimmen, können aber auseinanderdriften – und das ist in Deutschland der Fall.

Wenn die "Rechten" – in der Mehrzahl staatstreue Bürger – sich der Verleumdung ausgesetzt sehen, sie seien nicht "verfassungstreu" ("Es gibt tatsächliche Anhaltspunkte für den Verdacht verfassungsfeindlicher Bestrebungen" – so der Verfassungsschutzjargon), dann muß differenziert werden. Die Treue und die Loyalität auch der "Rechten" gelten dem Wortlaut der Verfassung und dem darin enthaltenen geistig-moralischen Anspruch. Aller Abscheu und scharfe Ablehnung aber gelten der Verfassungswirklichkeit, dem, was die Etablierten aus dieser Verfassung gemacht haben. Sie sind die eigentlichen Verfassungsfeinde.

Die Verfassungswirklichkeit stellt sich immer mehr als Verrat am Verfassungstext heraus. Dieser verderbten Verfassungswirklichkeit kann keine Loyalität entgegengebracht werden. Die wahren Verfassungsfreunde sind also nicht die Etablierten. Auch jene Behörde, die sich hochtrabend "Verfassungsschutz" nennt, schützt nicht den Wortlaut der Verfassung, sondern die Positionen des Establishment. Gegen diese Feinde des Wortlauts und des Sinnes der Verfassung ist Widerstand dringend erforderlich. Andernfalls driftet die Verfassungswirklichkeit weiter in Richtung auf eine totalitäre Parteifunktionärsoligarchie. Totalitär, weil Gesinnungsschnüffelei, Gedankenkontrolle und Meinungslenkung zu ihren Methoden zählen, die einem demokratischen System nicht zustehen. Oligarchisch ist diese Herrschaftsordnung, weil eine Parteifunktionärsclique, bestehend aus den etablierten Parteien SPD, Grünen, CDU/CSU, FDP und sogar der PDS, sich kartellartig zusammenschließt und jeden Neuen fortbeißt. Auch als die Grünen und die PDS als Neulinge auftauchten, wurde dies von den Altparteien versucht, allerdings vergeblich, und so mußte man sich arrangieren.

Deshalb wird die "Ausgrenzung" nun mit desto größerer, "rattenhafter Wut" (Heinrich Böll) gegenüber der "Rechten" versucht. Die aber sollten aus der Defensive herauskommen und erkennen, wo Widerstand überlebensnotwendig ist.

 

Prof. Hans-Helmuth Knütter lehrte Politikwissenschaften an der Universität Bonn


 
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