© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    12/01 16. März 2001

 
Die Invasion an der Côte d‘Azur
Frankreich: Nach Italien wird auch Frankreich zum Ziel von Schiffen mit illegalen Einwanderern
Charles Brant

In der Nacht vom 16. zum 17. Februar lief die "East-Sea", die unter kambodschanischer Flagge unzählige Flüchtlinge transportierte, am Strand von Bouloris in der Nähe von Saint-Raphaël (südwestlich von Nizza) auf Grund. Die Geschichte schlug wie eine Bombe in den Nachrichtenredaktionen ein. Im Laufe der nächsten Stunden wurde bekannt, daß Hunderte von Passagieren ans Ufer geschwommen waren, daß viele von ihnen an die Türen nahegelegener Wohnhäuser geklopft hatten, daß sie sich in Nordafrika wähnten und daß sie Kurden waren.

Die französischen Behörden heckten einen "Plan Blanc" aus, um die an Deck Verbliebenen zu evakuieren und den erschöpften Menschen die notwendige Hilfe zukommen zu lassen. Bald darauf stellte sich heraus, daß der Kapitän und die Mannschaft das aus einem griechischen Hafen ausgelaufene Schiff wohl mit Absicht stranden ließen und daß die französische Küstenwache keinerlei Signale empfangen hatte. Forderungen wurden laut, die Flüchtlinge in ihr Herkunftsland zurückzuschicken. Von offizieller Seite gab es zunächst widersprüchliche Äußerungen. Ihnen folgte eine Lawine von Entscheidungen, die den 908 kurdischen Flüchtlingen befristete Bewegungsfreiheit und Aufenthaltserlaubnis gewährten und ihnen eine fallweise Behandlung ihrer Asylanträge zusicherten.

Die Aufregung und Bestürzung der ersten Stunden legten sich schnell. Die Flüchtlinge, die zunächst in einem geschlossenen Lager in Fréjus untergebracht waren, sind mittlerweile auf verschiedene Unterkünfte verteilt worden. Mehr als 500 von ihnen haben das Weite gesucht, ohne die zuständigen Behörden zu informieren. Etwa 200 versuchten, über die Grenzen nach Deutschland, Belgien oder in die Schweiz zu gelangen. Von dort abgewiesen, kehrten sie nach Frankreich zurück, wo sie sich nun weiterhin in den Grenzregionen aufhalten.

Vor fast dreißig Jahren veröffentlichte Jean Raspail seinen Roman "Le camp des saints" ("Das Lager der Heiligen"). Aus heutiger Sicht liest sich diese Fiktion wie eine Prophezeiung: Eine mit Tausenden halbverhungerten Habenichtsen beladene Flotte erreicht die französische Mittelmeerküste an. Im Golf von Bengalen ausgelaufen, ist sie auf der Suche nach dem "Paradies". Der Roman erwies sich als Verkaufsschlager und löste leidenschaftliche Debatten aus.

Davon kann nun, da er mit der Ankunft dieser boat people aus dem irakischen Kurdistan Realität geworden ist, keine Rede sein. Le Monde zufolge gehören die allermeisten von ihnen der religiösen Minderheit der Yazidis an, die die muslimischen Kurden als "Ketzer" ansehen. Niemand denkt auch nur im Traum daran, ein so nebensächliches Thema wie die "Toleranzgrenze" anzusprechen. Selbst das Schengener Abkommen wird kaum erwähnt, eine echte Auseinandersetzung findet nicht statt. Man könnte meinen, die Franzosen hätten sich stillschweigend damit abgefunden, in einem Einwanderungsland zu leben. In der Tat hat sich die Einwanderung als ein Thema erwiesen, über das nicht geredet werden darf. Manche Stimmen behaupten, der Front National habe paradoxerweise dafür gesorgt, daß diese Frage ein für allemal tabuisiert und von der politischen Tagesordnung gefegt wurde.

In so gut wie allen französischen Städten gibt es "heikle" Zonen, in denen verschiedene Ethnien aufeinandertreffen. Polizei, Feuerwehr und Notärzte wagen sich kaum in diese Gebiete. Die Menschen, die hier leben, stammen keineswegs ausschließlich aus den ehemaligen französischen Kolonien. In Paris gehen die Linken regelmäßig auf die Straße, um für eine Einbürgerung der sogenannten sans-papiers zu demonstrieren – illegale Flüchtlinge ohne Papiere, die etwa aus Zaire oder China kommen. In Marseille und seiner Umgebung haben sich innerhalb von weniger als zehn Jahren 30.000 Kameruner "angesiedelt". Im Elsaß hat die Schar der aus Deutschland ausgewiesenen Kurden und Türken mittlerweile selbst die kleinsten Dörfer erreicht.

Wenn in Straßburg Autos brennen oder es vor den Toren von Paris zu Straßenschlachten kommt, ist in den Medien und von den Lippen der für die Sicherheit Verantwortlichen immer nur von "Jugendlichen" die Rede. Darauf fällt niemand mehr herein.

Jeden Samstagabend strahlt einer der beiden öffentlich-rechtlichen Fernsehkanäle eine Sendung mit hoher Einschaltquote aus, die den Franzosen ein neues Lebensgefühl nahebringen soll. Unter dem Titel "Alle Welt spricht davon" wird hier systematisch Werbung für sportliche und kulturelle Veranstaltungen der nordafrikanischen Einwanderer betrieben. Die – auch auf deutsch synchronisierten – Filme "Taxi I" und "II" über einen Marseiller Taxifahrer zählen ebenso zu den "großen Errungenschaften" des "multikulturellen" französischen Kinos.

Eine Reihe politischer Amtsträger folgte dem Vorbild des Marseiller Bürgermeisters Jean-Claude Gaudin – übrigens einem "bürgerlichen" Liberalen – , indem sie das "französische Modell" beschwor und betonte, Frankreich stehe für "die Öffnung und die Mischung". Das Institut für politische Studien, ein Heiligtum der republikanischen Elite, hat angekündigt, ab dem nächsten Semester Kandidaten von "Problemschulen" in der Pariser Region und in Lothringen eine vereinfachte Aufnahmeprüfung zu ermöglichen. Die Pariser Nahverkehrsbetriebe verfolgen ein ähnliches Ziel; auch sie brüsten sich damit, verstärkt Mitarbeiter aus den Vorstadtsiedlungen anheuern zu wollen. Und selbst die Polizei rekrutiert ihre Hilfspolizisten auf Initiative des äußerst republikanisch gesonnenen ehemaligen Innenministers Jean-Pierre Chevènement bevorzugt unter städtischen "Jugendlichen". (Um gegen die zunehmende Gewalt in den Schulen vorzugehen, schlug Chevènement bezeichnenderweise vor, sich ein Beispiel an den in brasilianischen Schulen angewandten Methoden zu nehmen.) Im Namen großer Prinzipien – des Antirassismus und der Menschenrechte – haben sich die Regierung wie die Werbeagenturen entschlossen, das französische Volk nach dem amerikanischen "Schmelztiegel"-Prinzip umzugestalten.


 
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