© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    13/01 23. März 2001

 
Vernunft angemahnt
Erwin Marschewski über Zuwanderung
Philip Plickert

Die Grünen haben auf ihrem Parteitag eine Rückkehr zum alten Asylrecht gefordert, wie es bis 1993 galt. Was halten Sie davon? Marschewski: Deutschland hat eines der modernsten Asylverfahren in Europa. Das Bundesverfassungsgericht hat 1996 sowohl die Verfassungsmäßigkeit als auch die Europatauglichkeit unseres Asylsystems festgestellt. Es wäre ein Rückschritt, wenn alle wesentlichen Regelungen der Asylrechtsreform des Jahres 1993 zur Zuzugssteuerung, Straffung und Vereinfachung der Verfahren rückgängig gemacht werden sollen. Zu bedenken ist, daß der Asylbewerberrückgang von 438.000 im Jahre 1993 auf circa 78.500 im Jahre 2000 den wesentlichen Säulen dieser Reform, Drittstaaten-, Herkunftsstaaten- und Flughafenregelung zu verdanken ist.

Können nationalstaatliche Regelungen die Zuwanderung überhaupt noch steuern? Spielt die entscheidende Musik nicht schon längst auf europäischer Ebene?

Marschewski: Seit dem Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrages am 1. Mai 1999 sind Asyl und Einwanderung keine nationale Angelegenheit mehr. Geltendes Recht müßte gegebenenfalls angepaßt werden beziehungsweise neue nationale Rechtsakte müßten sich an dem von der EU gesetzten Rahmen orientieren. Die bisherigen Initiativen der EU-Kommission zeigen bedauerlicherweise, daß deren Politik auf offensive, interessenunabhängige Zuwanderung gerichtet ist. Das widerspricht den deutschen Interessen nach geregelter Zuwanderung. Deutschland braucht ein Gesamtkonzept und eine vernünftige nationale und europäische Zuwanderungs- und Asylpolitik, deren Leitlinien Zahlenbegrenzung, soziale Steuerung und Integration sind.

Welche Auswirkungen hätte der umstrittene EU-Entwurf zur Neuregelung der Familienzusammenführung?

Marschewski: Würde der Richtlinienentwurf in seiner jetzigen Form umgesetzt, ist mit einer Zuwanderung von bis zu 300.000 Personen pro Jahr allein über Familiennachzug, also unabhängig von jeglichem ökonomischen Bedarf, zu rechnen. Die Richtlinie gewährt derzeit ein Recht auf Familienzusammenführung mittels Personen, die nur einen befristeten Aufenthalt haben, sie gewährt Rechtsansprüche auf Nachzug nicht nur für die Kernfamilie, sondern auch für homosexuelle Partner und Partner in nichtehelichen Lebensgemeinschaften, Nachzugsansprüche für Verwandte aufsteigender Linie (Eltern, Großeltern) und ledige volljährige Kinder, die nicht selbst für ihren Lebensunterhalt aufkommen können. Nachgezogenen wird sofortiger freier Zugang zum Arbeitsmarkt eingeräumt. Familienzusammenführung ist auch ohne Nachweis ausreichenden Wohnraums, Krankenversicherungsschutzes und ausreichender Einkünfte zu gewähren. Erhebliche Belastungen der Sozialkassen wären unvermeidlich.

Ein extremer Vorschlag definiert selbst gleichgeschlechtliche Partnerschaften als "Familie", die das Recht auf Nachzug in die EU haben soll. Kann die Union das noch verhindern?

Marschewski: Die Unionsfraktion hat einen Antrag "Familienzusammenführung sachgerecht regeln – EU-Richtlinienvorschlag ablehnen" in den Bundestag eingebracht und dort bereits am 18. Februar diskutiert. Die Beschränkung der Nachzugsberechtigten auf die Kernfamilien ist einer der wesentlichen Punkte dieses Antrages. Angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Bundestag hat die Union allerdings kaum eine Möglichkeit, etwas zu verhindern. Sie kann nur zur Vernunft mahnen.

 

Erwin Marschewski, 60, stammt aus Westfalen. Er ist Jurist und seit 1983 im Bundestag. Er ist innenpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.

 

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