© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    13/01 23. März 2001

 
Ein Staat als Kunstwerk
Es führt kein Weg ins Deutschland von heute: Neuerscheinungen zum Preußen-Jahr
Karlheinz Weißmann

Als im August 1991 Friedrich der Große vor das Schloß Sanssouci umgebettet wurde und die bundesdeutschen Feuilletons die Frage beschäftigte, ob ein neuer "Tag von Potsdam" drohe, da kommentierte Eberhard Straub das Geschehen mit folgender Feststellung zur Bewertung Preußens in der Nachkriegszeit: "Die Restdeutschen mogelten sich aus der Geschichte und fühlten sich sehr wohl dabei, denn, emsig Preußen belastend ... wogen sie sich in der Überzeugung, daß ’das Ausland‘ doch mit ihnen zufrieden sein könne. (…) Es half Preußen wenig, daß die Hingerichteten nach dem 20. Juli weitgehend aus dessen alten freiherrlichen Familien stammten, daß Junker und Offiziere die Ehre Deutschlands gerettet haben. Die Hingerichteten waren peinlicherweise nicht auf der Höhe des Geschichtsbildes der demokratisch-liberalen Umerziehung. Sie strebten nach einem freiheitlichen Staat in Übereinstimmung mit dem freiheitlichen Herkommen preußischer und deutscher Überlieferung".

Von solchen Aperçus findet sich leider nur noch wenig in der "Kleinen Geschichte Preußens", die Straub im "Preußenjahr" 2001 vorlegt. Es handelt sich um eine zwar kurze – vor allem die "preußische Vorgeschichte" (Hans Joachim Schoeps) im Ordensstaat weitgehend vernachlässigende –, aber gediegene Darstellung der historischen Entwicklung von der Kurmark bis zum bismarckschen Preußen, das seinen "deutschen Beruf" ergriff.

Abschließend geht Straub auch noch auf Untergang und "Nachgeschichte" ein. Der Leser wird über alle wichtigen Stationen der Entwicklung zuverlässig unterrichtet, das alles ergänzt um Karten, Stamm- und Zeittafel. Anders als noch vor zehn Jahren glaubt Straub heute offenbar, daß selbst die Nachgeschichte Preußens beendet sei, gestorben mit Marlene Dietrich, nach eigenem Bekenntnis "the last Prussian": "Es führt kein Weg aus Preußen in das Deutschland von heute." Preußen sei so tot wie die Antike, und schlimmer noch: "Ein ’ewiges Preußen‘ hat es nie gegeben."

Wahrscheinlich würde Frank-Lothar Kroll an dieser Stelle widersprechen, denn er befaßt sich mit "preußischem Geist", und Geist sagt man Unsterblichkeit nach.

Unter dem Titel "Das geistige Preußen. Zur Ideengeschichte eines Staates" erschienen jetzt vierzehn Aufsätze, die verschiedene Facetten der preußischen Weltanschauung behandeln. Einen besonderen Schwerpunkt bildet dabei die Zeit Friedrich Wilhelms IV., denn Kroll gilt als einer der besten Kenner dieser Ära und der in ihr wirksamen politischen Romantik. Aber der Verfasser beweist auch auf anderen Gebieten, daß man ihn zu den Hoffnungen unter den jüngeren deutschen Historikern rechnen darf. Es seien hier nur zwei Beispiele herausgegriffen: eine Abhandlung über das Problem der Toleranz bei Friedrich dem Großen und eine weitere über Moltke als politischen Denker.

Kroll zeichnet in seinem Text ein überzeugendes Bild der friderizianischen Religionspolitik. Friedrich, von dem man für gewöhnlich noch so viel weiß, daß er jeden "nach seiner Façon" selig werden lassen wollte, war entgegen verbreiteter Meinung kein Zyniker, der aus prinzipiellem Desinteresse an der Wahrheit Religionen auf ihre Nützlichkeit hin prüfte und alles gelten ließ, was der Staatsräson förderlich schien. Er hielt das eine wie das andere – Nützlichkeit und Staatsräson – für legitime Maßstäbe bei der Behandlung der Religionen, allerdings vor allem deshalb, weil er glaubte, daß alle (Hoch-)Religionen einen gemeinsamen Moralkodex besäßen, der für den Zusammenhalt der Gesellschaft unabdingbar sei. Friedrichs Überlegungen nahmen ihren Ausgang nicht bei einem abstrakten Konzept von Menschenrechten, sondern bei einer höchst konkreten Vorstellung vom Rang, den man dem Gewissen eines Menschen zubilligen muß.

Friedrich der Große und der ältere Moltke werden in einem Atemzug genannt, wenn es um preußische Militärgeschichte geht, aber sie weisen auch auf anderen Feldern Gemeinsamkeiten auf, etwa im Hinblick auf die für beide typische Verbindung von Aufgeklärtheit und Etatismus. Moltke teilte viele Anschauungen des "Vormärz", war ursprünglich liberal in einem weiteren Sinn, vor allem was die Verbundenheit mit der nationalen Idee anbetraf. Er sah sich in seinen Einschätzungen allerdings durch das Scheitern der Revolution von 1848 nachhaltig korrigiert und entwickelte jetzt jene "neukonservative" (Rudolf Stadelmann) Position, die derjenigen Bismarcks in vielem ähnelte, sich aber von den Vorstellungen der "Kreuzzeitungspartei", also der konservativen Orthodoxie, nachhaltig unterschied.

Der Konservatismus Moltkes war wirklichkeitsnäher insofern, als er sich von den ideologischen Wünschen der älteren Rechten – etwa der Solidarität der christlichen Monarchen – sehr weit entfernte, gleichzeitig die Realität des heraufkommenden Massenzeitalters, wenn auch nicht ohne Sorgen, zur Kenntnis nahm und nach schöpferischen Lösungen suchte. Auf begrenztem Raum gelingt es Kroll, die geistige Entwicklung eines Mannes nachzuzeichnen, der alles andere als ein Kommißkopf war.

Sammelbände mit Beiträgen desselben Verfassers haben immer den Vorzug einer gewissen Einheitlichkeit, während Werke, die aus Texten verschiedener Autoren zusammengestellt werden, oft sehr heterogen wirken. Dieser Befund trifft auch auf das von Patrick Bahners und Gerd Roellecke herausgegebene Buch "Preußische Stile. Ein Staat als Kunststück" zu. Der sehr schön gemachte, auch reich illustrierte (allerdings die Bilder "donaldistisch" kommentierende) Band umfaßt beinahe sechshundert Seiten, wird durch seinen Titel aber nur oberflächlich zusammen gehalten. Es ist vielleicht kein Zufall, daß der Aufsatz von Dieter Bartetzko über den "Erfinder" des "preußischen Stils", Arthur Moeller van den Bruck, in dem Buch wie versteckt wirkt und jedenfalls keine programmatische Wirkung hat. Man muß mit den Wertungen Bartetzkos im einzelnen nicht einverstanden sein, um doch viele seiner Beobachtungen und die Darstellung der Wirkungsgeschichte von Moellers zuerst 1916 erschienenem Buch "Der preußische Stil" aufschlußreich zu finden.

Überhaupt werfen jene Arbeiten, die scheinbar Nebenfragen behandeln, ein interessanteres Licht auf das Ganze als die Darstellung der allgemeiner bekannten Hauptsachen. Die Aufsätze, die in dem Band von Bahners und Roellecke mit den Kapitelüberschriften "Reformationen" (über das Allgemeine Landrecht und die preußischen Reformen), "Repräsentationen" (von der Hofhaltung über das Krönungszeremoniell bis zur Krise der monarchischen Selbstdarstellung in der Daily Telegraph-Affäre), "Traditionen" (zur Kunst- und Religionspolitik), "Legitimationen" (über die Bedeutung Kants, Wilhelm von Humboldts und Hegels für Preußen) und "Konstitutionen" (zur Verfassungsentwicklung Preußens im weitesten Sinn) versehen wurden, bieten dem Leser relativ wenig neue Informationen und Aspekte.

Das ist deutlich anders bei den beiden letzten großen Abschnitten. Unter dem Titel "Visionen" sind fünf Beiträge zusammengestellt, darunter der schon erwähnte von Bartetzko und einer von Kroll – wiederum über politische Romantik –, eine weitere Arbeit von Christine Tauber über die "Utopien Friedrich Wilhelms IV.", ein Aufsatz über die Idee des "sozialen Königtums" von Karl Heinz Metz und eine luzide Untersuchung von Christoph V. Albrecht über "Die Sachlogik des preußischen Generalstabs unter Moltke dem Älteren".

In dem letzten Teil des Bandes sei ausdrücklich hingewiesen auf die schönen Aufsätze von Hans-Christof Kraus über Jochen Klepper und Johannes Saltzwedel über Rudolf Borchardt. Eine besondere Würdigung verdient darüber hinaus die Abhandlung – es handelt sich um den längsten Text in dem Band überhaupt – von Patrick Bahners über Siegfried A. Kaehler. Der Göttinger Historiker Kaehler gehörte als Kriegsfreiwilliger von 1914 zu einer Generation, für die Preußen in der Zeit der Weimarer Republik oft als Parole gegen den neuen Staat dienen mußte. Preußen war das Alte, Gute, Verläßliche, Erinnerung an den deutschen Glanz. Die Intellektuellen erträumten selten eine Wiederkehr des Wilhelminismus, eher ein überzeitliches friderizianisches Preußen, das ganz im Kontrast zur grauen und geistlosen Gegenwart stand.

Kaehler war nicht frei von solchen Sehnsüchten, aber er hielt Distanz zu jeder allzu weit gehenden Verklärung. Er schätzte an der preußischen Tradition, daß sie die "Unbedingtheit des Staates" zur Geltung brachte, aber Begeisterung für den totalen Staat ließ das gerade nicht entstehen. Noch in seiner letzten Lebensphase trug sich Kaehler mit dem Projekt einer preußischen Geschichte, bei der die "Fragwürdigkeit" Preußens – Akzent auf "Würdigkeit" – im Mittelpunkt stehen sollte; hier hätte man wohl auch noch etwas über den von ihm stark hervorgehobenen "Verhängnischarakter" der deutschen und der preußischen Geschichte erfahren können.

Das Werk kam nicht mehr zustande, vielleicht auch, weil die Trauer über das Untergegangene zu mächtig war. In einem Brief an seinen Bruder Martin notierte Kaehler kurz nach Kriegsende über ein Schreiben von dessen Sohn: "Der Brief war eigenhändig mit Tintenblei geschrieben, sehr leserlich – inhaltlich bewundernswert in der Beherrschtheit der inneren Haltung, ohne jede Klage oder Anklage, die unsereinem doch nahe liegen würde bei diesem Schicksal der 4. Verwundung und wenn ein Mann mit steifem rechtem Arm nochmals an die Front geschickt würde; wie würden andere stöhnen und anklagen. Von Tieferem abgesehen, liegt in solcher Haltung wirklich ’preußischer Stil‘." 

 

Patrick Bahners und Gerd Roellecke (Hrsg.): Preussische Stile. Ein Staat als Kunststück, Verlag Klett Cotta, Stuttgart 2001, 574 Seiten, 59,80 Mark

Frank-Lothar Kroll: Das geistige Preußen. Zur Ideengeschichte eines Staates, F. Schöningh Verlag, Paderborn 2001, 305 Seiten, 48 Mark

Eberhard Straub: Eine kleine Geschichte Preussens, Siedler Verlag Berlin 2001, 175 Seiten, 28 Mark

 

Dr. Karlheinz Weißmann ist Historiker und Studienrat in Göttingen.


 
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