© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    15/01 06. April 2001

 
Der Kampf um die Offenheit des Denkens
Zum fünfzigsten Todestag des Philosophen Hans Leisegang
Günter Zehm

Dieser Tage wird Hans Leisegangs gedacht, des Philosophen, der vor fünfzig Jahren, am 5. April 1951, im Westteil Berlins verstarb, wohin er sich aus Jena geflüchtet hatte. Dort in Jena war er zum zweiten Mal in seinem Leben aus politischen Gründen von seinem Lehrstuhl verjagt worden, sollte zum zweiten Mal verhaftet werden. Die Flucht blieb als einzige Rettung.

Dabei hatte diesem thüringischen Pastorensohn vom Jahrgang 1890 nie etwas ferner gelegen als die Politik. "Politische Parteien interessieren mich nicht", konstatierte er oft und mit Ingrimm, "sie sollen ihren Nachwuchs in Priesterseminaren und anderen Kaderschmieden ausbilden, aber nicht im philosophischen Seminar. Denn dort geht es nicht um Politik, sondern um die Wahrheit, nicht um Macht, sondern um das Gespräch."

Aber genau mit solchen Auffassungen machte sich Leisegang bei den Mächtigen verdächtig und unbeliebt. Nach 1933, im Thüringen des nationalsozialistischen Ministerpräsidenten Dr. Frick, steckten sie ihn ins Gefängnis, weil er sich – tapferer, hochdekorierter Weltkriegsoffizier und Mitglied des "Stahlhelms" – respektlos über Hitler geäußert hatte und sich nicht in die "Neue Ordnung" einfügen wollte. Nach seiner Entlassung studierte der fünfzigjährige, mittel- und titellos gemachte Philosophieprofessor als einfacher Student Physik, promovierte zum Dr. rer. nat., arbeitete bis Kriegsende in einer Flugzeugfabrik.

Nach 1945 zunächst wieder in sein philosophisches Ordinariat in Jena eingesetzt, bekam er es schnell mit den Kommunisten zu tun. Er sollte seinen Studenten nun Diamat und Histmat beibringen, verweigerte sich, hielt seine Vorlesungen weiter im alten gediegenen Stil, die SED-Presse schäumte, er mußte "studentische Vollversammlungen" im Volkshaus über sich ergehen lassen, wurde Ende 1948 fristlos gekündigt, für vogelfrei erklärt. Und bald wurden auch seine Schüler verfolgt, die sich mutig weiter zu ihm bekannten. Das schmerzte ihn am meisten.

Hans Leisegang war ein begnadeter Lehrer, eine sokratische Existenz. Sein Feld war die Geschichte der Philosophie, zu der er erhellende Beiträge lieferte: Studien über die Gnosis und über Philon von Alexandria, die längst Standardwerke sind, prächtige Lesebücher über die "Denkstile" von Goethe und Lessing, eine unheimlich einfühlsame Betrachtung über Luthers Verhältnis zur deutschen Mystik.

Sein Hauptwerk, die 1928 zum ersten Mal erschienenen "Denkformen", markierte eine wichtige Position im damaligen geistigen Diskurs, der sich seit Dilthey, Max Weber und Oswald Spengler um die Relativität aller Erkenntnis drehte. Man bemühte sich an vielen Orten, "Denkstile" freizulegen und sie in der sozialen Stellung oder in der spezifischen Lebenserfahrung des jeweiligen Stilträgers zu verorten. Leisegangs Meinung, wortgewaltig und aus der Fülle seines universalen Wissens heraus formuliert, lief auf eine Absage an jeglichen Dogmatismus hinaus, betonte die "Offenheit" jedes evaluierten Denkens, die Dialektik von Entschiedenheit und Kompromißfähigkeit.

Doch sein eigentliches Zuhause waren Katheder und Seminarraum, wo er eine fast dämonische Faszination entfaltete. Leisegang verstand es wirklich, Schüler zu haben; die ergreifende Biographie seines treuen Adepten Eckardt Mesch (Erlangen/Jena 1999) legt davon Zeugnis ab.

Seiner Schüler wegen zögerte Leisegang auch so lange mit der Flucht. Edwin Redslob, der legendäre Kulturwart der Weimarer Republik, hatte ihm aus West-Berlin signalisiert, daß er Gründungsrektor der neuen Freien Universität (FU) in Dahlem werden solle, doch Leisegang lehnte ab, focht den Kampf in Jena bis zur allerletzten Patrone aus. Als er doch nach Berlin ans philosophische Seminar der FU ging, trug er bereits den Keim der Krankheit in sich. Daß man sich heuer seiner erinnert, ist schön, aber auch notwendig.


 
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