© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    16/01 13. April 2001

 
"Durchbruch der Schallmauer"
Alfred Rollinger, Initiator der Verfassungsklage zugunsten kinderreicher Familien, über die Reform der Pflegeversicherung
Moritz Schwarz

Herr Rollinger, Sie sind der Initiator der Klage zur Besserstellung von Familien mit Kindern in Sachen Pflegeversicherung. Das Bundesverfassungsgericht hat Ihrem Antrag nun spektakulär stattgegeben. Damit steht wohlmöglich der Umbau des gesamten bundesdeutschen Pflege- und Rentensystems bevor. Sind Sie sich im klaren darüber, daß Sie damit unter Umständen "das" Wahlkampfthema für den Bundestagswahlkampf 2002 geschaffen haben?

Rollinger: Ich kann mir nicht vorstellen, daß sich eine Partei offen gegen das Urteil stellen wird.

Die Opposition wird sich im Wahlkampf eine Offensive in Sachen Neuregelung der Pflege und Rente doch wohl auf keinen Fall entgehen lassen?

Rollinger: Das Verfassungsgericht gewährt für alle Änderungen verhältnismäßig lange Übergangszeiten, die politische Umsetzung dauert also eine Zeit. Die Neuregelung wird erst lange nach der nächsten Bundestagswahl fällig. Es muß also im nächsten Jahr in Sachen Pflegeversicherung nicht tabula rasa gemacht werden.

Erneut hat sich ein beschlossenes Gesetz als verfassungswidrig erwiesen.Entscheiden die Politiker über unsere Köpfe hinweg?

Rollinger: Das Verfassungsgericht ist eine große Gabe für die deutsche Nation. Es ist die einzige etwas monarchisch gefärbte Institution – die über den Tellerrand der Legislaturperiode hinausschaut. Nur das Verfassungsgericht fragt, was zum Wohle der Gesamtheit auch für die nächsten 20, 30, 40 Jahre notwendig ist. Ob SPD, CDU/CSU, FDP oder PDS – die Politik hat mit einem Problem zu leben: Sie kann aufgrund der kurzen Zeit in der direkten Verantwortung nur begrenzt Verantwortung übernehmen. Die Parteien müssen sehen, daß sie gewählt werden. Daher denken oder argumentieren sie meist nur in einem Bereich von vier Jahren – in dem der Legislaturpe-riode.

Die Union begrüßt den Entscheid des Gerichts, als ob er gegen ein Gesetz der derzeitigen Regierung ginge. Tatsächlich handelt es sich aber um eine Regelung der früheren CDU/ CSU/FDP-Koalition.

Rollinger: Das stimmt natürlich und ist nur als die übliche Schizophrenie der Politiker zu verstehen. Immerhin heißt der Vater des Pflegeversicherungsgesetzes Norbert Blüm! Es ist geradezu töricht, sich als Union nun gegen die alte Position zu stellen. Aber heute sind sie eben Opposition. Ich frage mich aber auch, kann die SPD – angesichts der positiven Resonanz bei den Sachverständigen und der überzeugenden Begründung des Gerichtes – gegen das Urteil sprechen?

Sie haben nach der Urteilsverkündung von einem "Durchbruch der Schallmauer" gesprochen.

Rollinger: Hier geht es um nichts geringeres als um die Bedeutung von Kindern in unserer Gesellschaft. Also um die Frage, wie teuer uns der Nachwuchs ist. Die etwas überzogene Formulierung, daß die Deutschen aussterben, ist im Kern richtig. Alle reden davon, daß die Rentenversicherung kurz vor dem Exitus steht, weil es zu viele alte und zu wenige junge Leute gibt. Dagegen muß etwas getan werden, das Urteil von letzter Woche ist ein erster Schritt in diese Richtung. Deshalb war ich begeistert, daß der Senat des Verfassungsgerichtes sich einstimmig gegen die Ungerechtigkeit in der Pflegeversicherung ausgesprochen hat.

Sie sind kein Rechtsanwalt, wieso haben Sie sich des Falles überhaupt angenommen?

Rollinger: Der Kläger, Vater von neuen leiblichen und eines Pflegekindes, den ich schon länger kenne, kam zu mir und erklärte mir seine Situation. Er empörte sich, daß zu seinen finanziellen Belastungen für die Kinder jetzt noch die staatliche Pflegeversicherung komme. Das bedeutete für ihn eine weitere Belastung von über hundert Mark im Monat. Er war der richtigen Meinung, daß er dem Staat für die Pflegeversicherung in Wirklichkeit nichts mehr schulde. Er sorge nämlich mit der Erziehung von Kindern dafür, daß neue Beitragszahler heranwachsen, die das System der Pflegeversicherung am Leben halten.

Das ist entscheidend, schließlich decken die laufenden Beiträge die künftige Leistungen nicht.

Rollinger: Das ist der Punkt, denn Kinder sind nun einmal das einzige Deckungskapital für die Pflegeversicherung, wie auch für die Rente. Die monatlichen Beiträge werden ja sofort verbraucht, indem sie in Pflegeleistungen umgesetzt werden. Die Kinder von heute hingegen tragen später einmal die ganzen Belastungen. Kinderlose Pflegebedürftige nehmen im Alter mit der Pflegeversicherung die Leistungen von den Kindern anderer Leute entgegen. Warum also wurden bisher Familien – zum einen durch die Beiträge, zum anderen durch die Erziehung – doppelt belastet? Genau hier hat das Bundesverfassungsgericht eingegriffen und diese Ungerechtigkeit künftig aus der Welt geschafft.

Sie haben diesen Prozeß sieben Jahre lang geführt, haben Sie von Anfang an mit einem Sieg gerechnet?

Rollinger: Ehrlich gesagt habe ich mir keine großen Hoffnungen gemacht. In Zahlen ausgedrückt bestand allenfalls eine Chance von 30 Prozent. Ich habe nämlich nicht geglaubt, daß das Verfassungsgericht soviel Courage aufbringen würde, die Pflegeversicherung in ihrer jetzigen Form als verfassungswidrig zu erklären. Zwar war es in der Vergangenheit schon immer so, daß familienfreundliche Politik von den Politikern angemahnt wurde. Die Taten der Politiker blieben aber hinter ihren Worten zurück. Der tatsächliche Herzschrittmacher für eine familienfreundliche Politik ist seit 20 Jahren in Karlsruhe beheimatet. Die knapp sieben Jahre Arbeit waren also nicht umsonst.

Ist dieses Urteil nicht auch ein Beweis dafür, daß mehr Bürgerengagement notwendig ist?

Rollinger: Auf jeden Fall. Leider ist der Weg zum Bundesverfassungsgericht aber ein äußerst steiniger, und nicht jeder wird diesen Weg gehen.

Dies war nicht Ihr erster Gang nach Karlsruhe?

Rollinger: Ich habe zuvor schon in drei anderen Fällen vor dem Bundesverfassungsgericht recht bekommen. So haben wir bereits in den achtziger Jahrren gegen die Kindergeldkürzungen durch die Regierung Kohl erfolgreich geklagt. Ich rate den Familienverbänden schon seit Jahren, weniger durch öffentliche Äußerungen wie Presseerklärungen oder Appelle an die Parteien einzugreifen. Sie sollten sich eher auf die juristische Seite konzentrieren und Anwälte fest anstellen, die Fehler der Regierungen aufarbeiten und notfalls vor Gericht bringen. Dieser Weg ist der erfolgversprechendere.

Ihr Fall ist ein gutes Beispiel dafür, daß sich Bürgersinn lohnt. Sind aber nicht viel zu wenig Bürger bereit für ihre Interessen einzustehen?

Rollinger: Natürlich. Allerdings muß man bedenken, daß Einmischung auch zu keinem Ergebnis führen kann. Wenn Parteikongresse und auch Privatpersonen einen Mangel feststellen oder neue Lösungen vorschlagen, heißt das noch lange nicht, daß diese auch realisiert werden. Jede Idee, ist sie auch noch so gut, wird immer wieder mit dem Argument der "Unfinanzierbarkeit" gestoppt. Spätestens dann ist das Engagement des Bürgers erloschen. Mit anderen Worten: Wenn Sie nicht die Zähne zeigen, also notfalls durch alle juristischen Instanzen marschieren, haben Sie meist schon verloren.

Das heißt, Geld ist da, man muß es sich nur erstreiten?

Rollinger: Ja, Geld ist eigentlich vorhanden. Wenn man nur nicht de facto die Kinderlosigkeit dotieren würde! Man könnte eine Abgabe für kinderlose Personen einführen, um das generative Verhalten der Bevölkerung auszugleichen. Zum Beispiel könnte ich mir für diese einen Beitrag in Höhe von fünf Prozent der Einkommensteuer vorstellen. Dann wäre Geld in Massen vorhanden. Aber keiner in der Politik kann sich zu diesem unbequemen Schritt durchringen. Wir sitzen in einer Zwickmühle.

Der DGB und Bundesgesundheitsministerin Schmidt schrecken offenbar vor einem Eingriff in die bestehende Regelung zurück und schlagen einen Ausgleich über eine Erhöhung des Kindergeldes vor.

Rollinger: Von einem Ausgleich über Kindergeld-Zuschläge halte ich nicht viel. Es wurde im Verlauf des Prozesses immer wieder versucht, uns durch Zusagen dieser Art abzuspeisen und damit unser eigentliches Anliegen auf Eis zu legen. Wir haben uns aber nicht beirren lassen und damit gekontert, daß die Ungereimtheiten dort ausgemerzt werden müssen, wo sie auftreten – in diesem Fall also im Pflegeversicherungsgesetz und nicht beim Kindergeld. Das eine hat mit dem anderen nur bedingt zu tun. Wie eine endgültige Lösung aussehen wird, kann man nicht sagen. Auf jeden Fall haben wir uns immer dagegen gewandt, auf andere Systeme auszuweichen, denn das führt zu großen Schwierigkeiten. Wir wollten die Lösung im belasteten System. Das Verfasungsgericht ist uns hier gefolgt. Es hat sogar einen wichtigen Punkt in seine Vorgabe mit aufgenommen, nämlich daß bereits ab dem ersten Kind eine Entlastung erfolgen muß.

Warum ist die Regierung gegen eine Lösung mit gestaffelten Beiträgen?

Rollinger: Die tatsächliche Position der Bundesregierung ist doch noch gar nicht formuliert, das Urteil ist schließlich erst eine Woche alt. Was wir bis jetzt gehört haben, sind Kommentare Einzelner. Politiker neigen eben dazu, zu allem etwas zu sagen, auch wenn sie nicht alles verstehen. Natürlich bedeuten gestaffelte Beiträge ein erhebliches Maß an Mehrarbeit. Diese ist sicher umständlicher als die bisherige Regelung. Denn das würde bedeuten, für jeden Versicherten in Tabellen den individuellen Beitrag nachzuschlagen. Wir haben den ersten, den juristischen Schritt getan. Die Politik muß jetzt den Staffelstab übernehmen und tätig werden.

Wenn Bundesgesundheitsministerin Schmidt statt gestaffelter Beiträge eine externe Lösung, etwa über das Kindergeld, bevorzugt, zeigt das doch, daß sie die eigentliche Botschaft Ihres Klagevorstoßes in Karlsruhe gar nicht begriffen hat: nämlich nicht nur finanzielle Erleichterungen für Eltern zu erwirken, sondern der Bedeutung von Kindern für das Gemeinwesen Rechnung zu tragen?

Rollinger: Allerdings ist das ist in anderen Ländern Europas nicht anders. Schauen Sie doch einmal die Geburtsraten in Italiens Poebene an. Dort ist die Gebärrate pro Frau auf 0,8 Prozent gesunken, liegt also unter den deutschen Wert von 1,1 bis 1,2 Prozent. Mit anderen Worten: Es gibt Regionen in der Europäischen Union, die noch weitaus stärker mit dem Problem zu kämpfen haben als wir.

Natürlich ist das ein Problem der modernen Industriegesellschaft und ihrer Werte wie Konsum und Individualiserung. Heißt es aber nicht genau deshalb für die Regierung, dem Werte wie Gemeinschaft, Verantwortung und soziale Bindung entgegenzusetzen?

Rollinger: Sicher, aber keiner traut sich zu sagen, daß wir die Kindererziehung so berücksichtigen und belohnen müssen, wie ein öffentliches Gut es verlangt. Denn in der heutigen Zeit muß Kindererziehung eben mit Annehmlichkeiten wie Reisen in den Süden, breitem Freizeitangebot und nicht zuletzt Erfolg im Beruf konkurrieren. Man darf nicht der naiven Meinung sein, daß kinderlose Menschen unglücklicher wären. Natürlich ist es einfacher, sein Leben ohne Kinder zu gestalten. Als fünffacher Familienvater kann ich aber guten Gewissens behaupten, daß Kinder unbeschreiblich viel Lebensfreude mit sich bringen. Aber solches Umdenken, sollte es überhaupt dazu kommen, stellt sich erst nach vielleicht hundert Jahren ein, bis dahin müssen aber in jedem Falle die finanziellen Verhältnisse in der Gesellschaft geordnet werden. Ich bin einfach dafür, das nächstliegende zuerst zu tun.

Dann wird aber vergessen werden, daß Kinder gemeinschaftsstifend sind.

Rollinger: Völlig richtig, in Sonntagsreden wird auch immer wieder daran erinnert, wer aber setzt sich wirklich für die Rückkehr dieser Werte ein? Erinnern Sie sich doch nur an den Regierungsantritt Helmut Kohls 1982. Wo war denn da die geistig-moralische Wende? Und das erste, was die neue Regierung in puncto Familienlastenausgleich tat, war die Kürzung von zehn Milliarden Mark. Meine Frau sagte damals zu mir: "Alfred, das war das letzte Mal, daß wir die Union gewählt haben."

 

Alfred Rollinger geboren 1925 in Perl/ Obermosel, aufgewachsen in Trier. Nach seiner Gestellung 1943 ging er 1944 aus politischer Überzeugung in US-Kriegsgefangenschaft. Danach studierte er Rechtswissenschaften an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Von 1952 bis 1990 war er Richter am Sozialgericht in Trier und Koblenz, zuletzt als Vizepräsident in Trier. 1983 zog er erstmals vor das Bundesverfassungsgericht und klagte – als Vater von fünf Kindern – erfolgreich gegen die Kürzung des Kindergeldes für "Besserverdienende".

 

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