© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    16/01 13. April 2001

 
Eltern verzweifelt gesucht
Im Jahr des Ehrenamtes: Die wertvolle Arbeit von Pflegeeltern wird nicht genügend gewürdigt
Martina Zippe

Noch vor wenigen Jahrzehnten kamen bereits Kleinkinder in Heime, wenn die Eltern mit der Erziehung überfordert waren. Doch im Heim fehlten den mitunter erst zweijährigen Kindern feste Bezugspersonen. Das konnte zu schwersten Schäden in ihrer Entwicklung führen, etwa zu Depression, Selbstmordgedanken und Drogenabhängigkeit im Erwachsenenalter. Heute werden Kinder unter sechs Jahren höchstens noch kurzfristig in ein Heim gegeben. Die allermeisten Pflegekinder im Vorschulalter leben bei Pflegeeltern. Doch bundesweit insgesamt 50.000 Kindern und Jugendlichen in Pflegefamilien stehen noch immer 80.000 in Heimen gegenüber. Von diesen 80.000 Minderjährigen ließen sich mindestens zehn Prozent, also 8.000, an Pflegefamilien zu vermitteln. Dies schätzt Ines Kurek-Bender, die Vorsitzende des Bundesverbandes der Pflege- und Adoptivfamilien (PFAD) in Frankfurt am Main. Der Landschaftsverband Rheinland bemüht sich derzeit, etwa 1.000 Heimkinder aus NRW an Pflegeeltern zu vermitteln. Mit der Betreuung der Kinder sei eine "zwar anstrengende, aber persönlich bereichernde" Aufgabe verbunden, erklärt der Landschaftsverband. Eine Adoption sei selten möglich, erwünscht sei aber ein mehrjähriger Aufenthalt in dem neuen Zuhause. Im allgemeinen bleibt circa ein Drittel der Kinder bei ihren Pflegeeltern, ein Drittel kehrt zu den leiblichen Eltern zurück und ein weiteres Drittel wechselt die Pflegefamilie.

Welche Erfahrungen machen nun Menschen, die versucht haben, Kindern eine neue Geborgenheit zu geben?

Das Fallbeispiel der Familie Ludwig macht die Freuden und Probleme des Pflegeverhältnisses deutlich. Frau Ludwig (alle Namen sind von der Redaktion geändert)hat zwei Pflegekinder aufgenommen. Bereits zuvor hat sie im pädagogischen Bereich gearbeitet, in einem Kinderheim, wo sie Pflegekinder im Vorschulalter vermittelte. Sie und ihr Mann hatten vor, irgendwann einmal ein Pflegekind zu sich nach Hause zu holen. "Aber erst später", meinten beide damals. Denn die eigenen Kinder waren gerade erst zwei und drei Jahre alt. Doch als Herr Ludwig in der Zeitung las, daß Pflegeeltern gesucht wurden, bewarb sich das Paar. Das Jugendamt suchte Eltern für die vorübergehende Pflege eines vierjährigen Jungen und brachte diesen gleich mit. Der Beamte ließ das Kind namens Sven auch direkt bei der Familie Ludwig. Ein Vorbereitungsseminar für die Pflege fand nicht statt. Der Junge war zu klein für sein Alter, er sprach und lief nicht richtig und war sehr still. Nach einem Dreivierteljahr hatte er sich aber gut entwickelt und ging gern zu seinen leiblichen Eltern zurück.

Die eigenen Kinder der Ludwigs, Michael und Markus, mußten zwar die elterliche Zuwendung teilen, waren dem kleinen Sven aber neugierig und hilfsbereit begegnet. Vor allem Markus trauerte lange wegen des Abschieds.

Anderthalb Jahre später nahm das Jugendamt Sven und seinen jüngeren Bruder Simon den leiblichen Eltern weg. Es suchte für beide zusammen dringend Pflegeeltern und wandte sich wieder an Ludwigs. Obwohl beide den Umfang der Arbeit mit vier Kindern zwischen fünf und sechs Jahren ahnten, fühlten sie sich moralisch nicht in der Lage abzulehnen. Als beide Kinder kamen, freute sich der jüngere Markus sehr, und der ältere Michael war hilfsbereit. Frau Ludwig gab sofort ihre Berufstätigkeit auf, was ihr aber nichts ausmachte. Sie wollte sich sowieso überwiegend ihren Kindern widmen. Kurze Zeit später arbeitete sie aber wieder. Der kleine Simon wollte nämlich ständig bei seiner Pflegemutter sein; er war aber schon fünf und sollte ein Jahr später in die Schule kommen. Um ihn an eine Gruppe zu gewöhnen, nahm Frau Ludwig eine Stelle in einer Vorkindergartengruppe an und brachte Simon zur Arbeit mit.

Die eigenen Kinder fühlten sich mitunter zurückgesetzt, denn Frau Ludwig konnte sich nicht allen gleichzeitig widmen. So wurden eine Ersatzoma und eine Raumpflegerin nötig. Schließlich mußte Frau Ludwig sogar Schmuse- und Spielgutscheine verteilen, um alle vier Kinder zufriedenzustellen. Der leibliche Sohn Michael erlitt nach einem Jahr einen seelischen Zusammenbruch. Markus hängte sich mehr an seine Kindergärtnerin. Auch innerhalb der Paarbeziehung ergab sich mehr Diskussionsbedarf. Hinzu kamen Streitigkeiten mit den Herkunftseltern. Drei Jahre lang war die zukünftige Heimat von Sven und Simon noch offen. Natürlich wollten die leiblichen Eltern die Kinder gern wiederhaben. Oft besitzen die Herkunftseltern nicht viel, und die Kinder sind alles, was sie haben. Das Jugendamt gab lange keine Antwort über die Zukunft der Kinder, was diese auch verunsicherte. Die Besuchskontakte waren für alle anstrengend.

Nun sind die Pflegekinder seit acht Jahren in der Familie Ludwig. Sie haben Kontakt zu ihren leiblichen Eltern und lieben auch diese. Die Ludwigs freuen sich riesig über alle Fortschritte der Kinder, etwa als ein Kind fahrradfahren lernte. Simon war oft dankbar für das Essen. Sven sagte schließlich: "Ich weiß, was ich durch Euch für Chancen bekommen habe." Frau Ludwig ist nicht mehr berufstätig; im Verband der Pflegeeltern hat sie aber eine für sie befriedigende Aufgabe gefunden.

Frau Ludwigs Resümee: "Zurückdenkend würden wir wieder Pflegekinder aufnehmen. Allerdings müßte der Altersunterschied zu den eigenen Kinder größer sein. Das Pflegekind sollte das jüngste Kind sein. Eine gute Beratung vor und während der Pflegezeit ist ganz wichtig, ebenso wie der Austausch mit anderen Pflegeeltern und eine Weiterbildung mit pädagogischen Tips. Dies bietet auch der Bundesverband der Pflege- und Adoptivfamilien."

Für den besseren Verlauf der Pflegeelternschaft im allgemeinen schlägt Ines Kurek-Bender vom Verband der Pflegefamilien klarere Regelungen von seiten des Jugendamtes vor: Die Bedingungen für die Pflege sollten sowohl den Herkunfts- wie den Pflegeeltern deutlich gemacht werden. Das Kind hat nach einer gewissen Dauer seines Aufenthaltes bei den neuen Eltern nämlich einen Rechtsanspruch darauf, in diesem neuen Zuhause bleiben zu dürfen.

So gibt Paragraph 1632 Absatz 4 des Bürgerlichen Gesetzbuches dem Kind ein Bleiberecht für den Fall, daß die Beziehungen des Kindes zu den Pflegeeltern enger geworden sind als zu den eigenen Eltern und das Kind Schaden nehmen würde, wenn es zurück müßte. Je nach Alter kann dieses Bleiberecht recht bald entstehen. Dies wird den leiblichen Eltern nicht immer hinreichend deutlich gemacht, so Kurek-Bender. Ein Beispiel: Die leibliche Mutter ist drogenabhängig. Sie beginnt eine Therapie. Das Jugendamt sagt ihr, daß das Kind auf Zeit in einer Familie untergebracht wird, worin sie einwilligt. Wenn sie nun nach drei Monaten drogenfrei ist, steht der Rückgabe des Kindes nichts im Wege. Braucht sie hierfür aber drei Jahre, so muß sie zu ihrer Enttäuschung feststellen, daß das Kind nun ein Bleiberecht in der neuen Familie hat. Das hat sie aber vorher nicht gewußt.

Zu diesen Problemen, die mitunter Gerichtsverfahren nach sich ziehen, müßte es nicht kommen, wenn beiden Seiten die Bedingungen von vornherein deutlich gemacht worden wären, meint der Verband der Pflege- und Adoptivfamilien.

Außerdem sollte der Besuchskontakt gut geregelt sein. Es treten häufig Konflikte auf, wenn die Herkunftseltern das Kind im neuen Zuhause besuchen, so Kurek-Bender. Um diese Probleme gar nicht erst entstehen zu lassen, sollten Treffen der beiden Elternpaare zunächst auf neutralem Boden stattfinden, etwa in einem Zoo oder beim Jugendamt.

Auch mehr Werbung für Pflegeeltern von seiten der Jugendämter hält der Verband der Pflege- und Adoptivfamilien für sinnvoll. Denn in der Öffentlichkeit sind Pflegefamilien kaum ein Thema. Die meisten Bürger wissen wenig darüber. Manche Jugendämter, wie etwa das in Duisburg, ergreifen aber die Initiative, indem sie Gesuche nach Pflegefamilien in öffentlichen Gebäuden aushängen.

Schließlich befürwortet Ines Kurek-Bender ein früheres Einschreiten des Jugendamtes, wenn ein Kind auffällig wird. Hierauf sollten dann schon die Kindergärtner hinweisen. Das Jugendamt könne das Kind so rechtzeitig aus der Familie nehmen oder andere geeignete Maßnahmen ergreifen, meint Kurek-Bender. Dieses präventive Handeln sei wichtig, damit sich Kinder gar nicht erst zu Problemfällen entwickelten. Damit könne auch jugendkriminellen Karrieren wirksam vorgebeugt werden.

Die politischen Möglichkeiten, die Pflegeelternschaft attraktiver zu machen, müßten allerdings auch genutzt werden. Pflegeeltern haben bisher nämlich keine sozialversicherungsrechtlichen Ansprüche. Ines Kurek-Bender hält es für ungerecht, daß Pflegeeltern nicht krankenversichert sind. Dies kann dazu führen, daß eine Pflegemutter, die bisher über ihren Ehegatten versichert war, im Falle einer Scheidung keine eigene Krankenversicherung hat. Außerdem haben die Pflegeeltern keinen Rentenanspruch aus ihrer Tätigkeit. Bei Pflegeeltern, die wegen der Pflegekinder keiner weiteren Berufstätigkeit nachgehen, hat dies die Konsequenz, daß sie gerade dann, wenn sie als Pflegefamilie Erfahrung gesammelt haben, diese Tätigkeit aufgeben und wieder ins Berufsleben einsteigen müssen. Ansonsten würden sie im Alter keine Rente erhalten.

Der Verband der Pflege- und Adoptivfamilien hält daher eine entsprechende Grundabsicherung für alle Pflegeeltern für sinnvoll. Insbesondere die erfahrenen Pflegeeltern sollten aber eine solche Absicherung erhalten, weil gerade sie in der Lage wären, auch ältere und damit oft schwierigere Kinder aufzunehmen. Denkbar sei etwa eine Regelung wie bei pflegenden Angehörigen von pflegebedürftigen alten Personen, denen ein Grundbeitrag für die Rentenversicherung gezahlt wird.

 

Informationen beim Bundesverband der Pflege- und Adoptivfamilien (PFAD): Lindenstraße 2 a, 61440 Oberursel, Tel.: 069 / 97 98 670 Fax: 0 61 71 / 58 03 39.


 
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