© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    16/01 13. April 2001

 
Schizophrene Volksseele
Kino: "Engel des Universums" von Fridrik Thor Fridriksson
Ellen Kositza

Island in den späten sechziger Jahren: Paul (Ingvar Eggert Sigurdsson), knapp dreißig, ist ein netter Mann mit künstlerischen Ambitionen, er gestaltet großformatige Ölgemälde, er trommelt. Dabei ist er ein bescheidener, uneitler Mensch mit weichen Gesichtszügen, längeren Haaren. Als Junggeselle lebt er noch bei seinen Eltern und seiner kleinen Schwester, einfache Menschen, liebenswürdig. Wie anders ist da Pauls Schulfreund Rognvald, ein nüchterner, viel ernsthafterer Mensch, der schnurgeraden Wegs an seiner Karriere bastelt, eine Familie gründet, statt zu träumen stets das Machbare ins Auge faßt.

Paul schwebt wie auf Wolken, als er sich in eine Tochter aus bürgerlichem Hause verliebt. Die Geliebte wird ihm eine Muse, Inspiration zu neuem Kunstschaffen. Doch die Liaison währt, wie Rognvald prophezeit hat, nur kurz, scheitert am Widerstand der Familie und letztlich an der mangelnden Ernsthaftigkeit des Mädchens selbst. In Paul zerbricht etwas, er wird wortkarg, schließlich aggressiv. Es zeigen sich Veränderungen in seinem Wesen, die längst nicht mehr allein auf den Verlust der Freundin zurückzuführen sind.

Nach wüsten Handgreiflichkeiten gegen seine eigene Familie wird Paul, nun kahlgeschoren, das Gesicht zur Fratze verzerrt, in eine geschlossene Psychiatrie eingewiesen. Schizophrenie, lautet die Diagnose der behandelnden Ärzte. Fortan bilden die Anstalt und ihre Insassen Pauls neues Lebensumfeld. Genau an diesem Punkt sackt der bis hierher hervorragende Film ab – wenn auch keinesfalls ins Bodenlose, jedoch: genau dieser Psychiatriealltag mit seinen häufig humoresken Situationen und der dahinterstehenden Tragik wurde seit "Einer flog über das Kuckucksnest" schon häufig genug erzählt, und so mancher Griff nach allzu simplen Klischees wäre wohl verzichtbar gewesen.

Pauls neue Freunde sind Oli, der sich für den wahren Komponisten aller Lieder der Beatles hält, Peter, der seine reale Familie samt schwangerer Gattin ignoriert und seiner eingebildeten Promotion in China über Schiller nachsinnt, und Viktor, der elegante Nazi. Mit seinen neuen Kameraden verständigt sich Paul derart über irrsinnige Dinge, als kommunizierten sämtliche Schizophrene innerhalb eines hermetischen, untereinander stets kompatiblen System miteinander, das nur dem geistig Gesunden unzugänglich ist. Die Frage, die über dem allem schwebt, ist klar und innerhalb der ganzen Psycho-Thematik längst zum Gemeinplatz geworden: Was ist normal, was wahr, was gesund?

Einen immerhin neuen Anstoß erhalten diese Fragen durch Pauls Psychiater: Die Schizophrenie, meint der alte Mann, der sein ganzes Leben dem Umgang mit seinen Patienten widmet, sei tief in der isländischen Volksseele verwurzelt, was sonst bedeute das auf der Insel nie untergegangene Erzählen von Elfen und Trollen, von jener verborgenen Anderwelt? Pauls Anstaltsdasein gegenübergestellt wird Rognvalds Leben in den geordneten Bahnen des beruflichen und Familienalltags. Wer ist glücklicher, wer der eigentlich Zerrissene?

Als "magischer Realismus" wird das Werk des bekanntesten isländischen Regisseurs Fridriksson gerne gekennzeichnet, stets spielt in seinen Filmen Mythisches hinein in die Profanität des Alltags. Skandalös begann einst Fridrikssons Karriere. Mit dem Versprechen, die großangelegte Verfilmung einer berühmten isländischen Volkssage zu präsentieren, lockte der junge Künstler eine gewaltige Publikumsmenge zu überteuerten Eintrittspreisen in die Kinopremiere. Zu sehen waren schließlich wenige Einstellungen eines aufgeschlagenen brennenden Buches. Fridriksson, finanziell für einige Zeit gesättigt, mußte die Stadt verlassen. Mittlerweile ist der Regisseur längst international anerkannt, seine Filme konsumierbar und dennoch, wie "Engel des Universums" zeigt, entfernt davon, Mittelmaß zu sein.


 
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