© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    17/01 20. April 2001

 
Zeit als neuer Luxus
Einfach mal abschalten
Dieter Stein

Vergangenen Donnerstagabend verlasse ich spät das Büro. Es ist 23.30 Uhr. Ich habe noch lange über dem Jahresabschluß und einer Mitteilung an die Kommanditisten unseres Verlages gesessen. Jetzt ist alles geschafft. Am Savignyplatz, in der "Dicken Wirtin", einer saugemütlichen Berliner Kneipe mit filmreifen ruppigen Kellnern (Lieblingsdialog: "Hallo Ober" – "Hallo Gast!"), die in der Regel hinter der Theke ihre Gläser schneller leeren als die Gäste, sitzt noch zu vorgerückter Stunde ein kleiner Kreis von Redakteuren und Autoren. Als ich dazustoße, hat man sich soeben dem Thema "Zeit" genähert.

"Ist es nicht der wahre Luxus, das lässigste Statussymbol, einfach Zeit zu haben?" meint ein Redakteur zwischen zwei Zigarettenzügen. Die Kellner der "Dicken Wirtin" genießen diesen Luxus, denn sie lassen wie immer mit der Lieferung frischer Getränke auf sich warten. Als die Apfelschorle, die Köpis und das Schwarzbier nach einer Ewigkeit kommen, sinniert ein anderer: "Ja, morgens, an einem Werktag um neun Uhr mit der Fitneßtasche über den Ku’damm laufen und kein Handy dabei. Nicht erreichbar! Das ist es!"

Heutzutage ist man überall erreichbar, Handys piepsen in der Vorlesung oder auf der Toilette, wir sind mobil, immer ansprechbar, allzeit bereit. Nun wird der Bürger noch von höchster Stelle, vom Bundeskanzler persönlich, unter Druck gesetzt, mehr Leistungsbereitschaft zu zeigen, von Faulpelzen und Drückebergern auf dem Arbeitsmarkt ist die Rede.

Wie gehetzt die modernen Menschen sind ... Neulich war der Vertreter eines Büromaschinenherstellers in unserem Verlag. Ihm muß seit Jahren die Panik im Nacken sitzen, die Gelegenheit für noch zwei Kunden-Termine am Tag zu verpassen. Er spricht ohne Punkt und Komma. Er hat eine Sprachneurose. Verschluckt Wörter, Satzenden, streut in jeden Satz zur ständigen Überbrückung immer wieder ein knarrenden "gnähh" ein. "Also, Herr Stein, Sie sollten sich, gnääh, überlegen, ob Sie sich für dieses, gnääh, Produkt entscheiden. Gnähh. Immerhin ist es erstaunlich leistungsfähig und, gnääh, Sie gewinnen damit ..." Ja, was wohl? Zeit.

Jede Maschine, jede Automatisierung, ja auch die schicken Navigationssysteme in neuen Autos, die Freisprechanlagen und WAP-Handys, machen uns nicht unabhängiger und freier, sondern drohen uns immer mehr zum Sklaven tickender Uhren und fremder Taktzahlen zu machen.

Es sei denn, man schaltet die technischen Errungenschaften ab, läßt sie zu Hause, macht sich zu Fuß und alleine auf den Weg, sucht sich einen erhöhten Standpunkt aus und sieht nicht zu, "wie sich die Ameisen gegenseitig auffressen" (Ernst Jünger), sondern lauscht auf einem Gipfel des Schwarzwaldes, an einem einsamen See, am Meeresstrand auf die Geräusche der Natur, der Tiere und besinnt sich auf das Wesentliche. Und ist unerreichbar ... Da kommt der Kellner, der Zündschlüssel dreht sich im Schloß, und es geht die Fahrt durch das nächtliche Berlin nach Hause ...


 
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