© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    17/01 20. April 2001


LOCKERUNGSÜBUNGEN
Web-Offensive
Karl Heinzen

Obwohl das Bundesministerium des Innern mit seinen offen und verdeckt arbeitenden Institutionen eigentlich für sich in Anspruch nehmen darf, Maßstäbe für das zu setzen, was in unserem demokratischen Gemeinwesen toleriert werden darf und was nicht, hat sein Sprecher Dirk Inger für einen Augenblick wohl unterschätzt, daß Entscheidungen immer noch zunächst die Überzeugungsarbeit und erst dann ihre Verkündigung zu folgen hat. So war es schlicht voreilig, gegenüber Spiegel Online zu erklären, sein Haus plane Hacker-Attacken gegen Nazi-Websites, die im Ausland ins Netz gestellt werden. Das unterentwickelte Problembewußtsein gegenüber den Risiken der Informationsgesellschaft ließ nichts anderes als Protest erwarten.

Die durch das Internet mit einem Informationshedonismus und vor allem einem das eigene Urteilsvermögen überschätzenden Mündigkeitsbegriff verwöhnte Klientel ist noch nicht soweit, zu begreifen, daß Einschnitte in die Freiheit einiger weniger die Freiheit aller anderen nicht berühren. Angesichts des webfundamentalistischen Aufheulens war das Dementi aus dem Ministerium Schily somit zwar unkollegial, aber unausweichlich. Vor allem jedoch widersprach es Dirk Inger im Kern der Sache nicht: Zur Eindämmung krimineller Aktivitäten, das heißt der Propagierung in Deutschland verbotener Positionen, "darf keine rechtliche oder auch technisch zulässige Möglichkeit außer acht gelassen werden". Nichts anderes hatte Inger zum Ausdruck gebracht, als er sagte, daß die erwogenen Cyber-Attacken nicht "im Unrechtsbereich anzusiedeln" seien.

Unter dem Strich ist der Rückzieher des Ministeriums jedoch ärgerlich, weil eine Chance vertan wurde, die Internet-Gemeinde ob ihrer Bigotterie vorzuführen: Warum wird die Intoleranz gegenüber der Toleranz toleriert, nicht aber die Intoleranz gegenüber der Intoleranz? Bescheidenheit und Zurückhaltung in der Durchsetzung der Prinzipien, die unser Gemeinwesen kennzeichnen, sind eine Schwäche, die wir uns nicht erlauben dürfen. Mit der freiheitlich demokratischen Grundordnung verfügt das deutsche Volk schließlich erstmals in seiner Geschichte über eine Staatsauffassung, die universale Geltung beanspruchen darf und daher, und das nicht nur theoretisch, überall in der Welt offensiv verteidigt werden sollte. Eigentlich schien sich dies unterdessen sogar bis in die Politik herumgesprochen zu haben. Die Zeiten atavistischer Zurückhaltung in Fragen, die aus Scheu vor globaler Verantwortung zur inneren Angelegenheit anderer Länder kleingeredet wurden, durften als überwunden gelten. Das Bundesministerium des Innern sollte daher nicht zögern, dem Eindruck entgegenzutreten, es werde Mei- nungsäußerungen im Ausland tolerieren, bloß weil diese durch die jeweilige Rechtsordnung als nicht ahndungswürdig angesehen würden. Ob wir es mit unseren Grundwerten wirklich ernst meinen, läßt sich nur an der Entschlossenheit messen, mit der wir ihre Akzeptanz auch von allen anderen verlangen.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen