© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    17/01 20. April 2001

 
Pankraz,
Malvolios Strumpfbänder und die Dumpfbacken

Höchst erwünscht ist die Rehabilitierung einer Kategorie, die im "öffentlichen Diskurs" vollkommen außer Kurs geraten ist: der Dumpfheit. Jeder Medien-Esel hält sich inzwischen für besonders schlau, wenn er die "Dumpfheit" seines Meinungsgegners anprangert. Dumpfheit ist seiner Auffassung nach viel schlimmer als Dummheit, denn Dummheit sei allgemein, könne in den besten Familien vorkommen, aber Dumpfheit sei "rechts", eine Eigenschaft "rechter Dumpfbacken". Sich von ihr so oft wie möglich abzuheben, verheißt in offiziellen Kreisen Ansehen und Gewinn.

Dabei hat die Dumpfheit allerbeste Ahnen, stammt von dem großen Leibniz her, ist die deutsche Übersetzung von dessen ideae confusae, den "konfusen Ideen". Im Gegensatz zu den späteren Aufklärern hatte Leibniz bereits eine präzise Einsicht in die "Dialektik" der Aufklärung. Er wußte, daß beim Aufklären eines Sachverhalts viel von dem verloren geht, was in der idea confusa dieses Sachverhalts, in der semantischen Dumpfheit, noch voll enthalten ist. Aufklärung fokussiert, stellt eine bestimmte Seite des Sachverhalts (beispielsweise seine Nützlichkeit) scharf heraus, wodurch andere Seiten in um so tieferes Dunkel geraten.

Dumpfheit ist in der Regel reicher als Aufklehricht, wenn auch schwerer funktionalisierbar. Die Etymologie des Wortes "dumpf" erweist seine Herkunft aus dem "Dunst". Dumpfe Zustände waren dunstige Zustände, vieldeutige, mit Entwicklungspotential aufgeladene, Morgenröte und Gewittergrollen. So haben – laut Grimmschem Wörterbuch – Musäus, Wieland, Goethe von Dumpfheit gesprochen. Leitbild war "der dumpfe Trommelklang". In seinem Grollen wogten großartige wie unheilvolle Möglichkeiten, alles war noch verdeckt, weckte bange Erwartung, Beklemmung.

Nicht Ignoranz, sondern Beklemmung galt in diesen frühen Zeiten als die Schattenseite der Dumpfheit. Die Ärzte diagnostizierten "Dumpfe", wenn ihre Patienten an "Engbrüstigkeit", Atemnot, Asthma litten. Wer von Dumpfheit befallen war, dem lief das Herz über, aber das Reden fiel ihm schwer, weil ein "Dunst" auf seinen Organen und Atemwegen lag.

Ob aber pathologischer "Dunst" oder ahnungsvolles, in der Artikulation undeutliches Reden über Sachverhalte – der Dumpfheit gebührte noch zur Goethezeit Respekt und Rücksichtnahme. Erst im Positivismus des späteren neunzehnten Jahrhunderts wuchs dem Wortgebrauch allmählich pejorative Bedeutung zu, im selben Maße, wie die Erkenntniskraft des Gefühls zugunsten des mathematisch kalkulierenden Verstandes abgewertet wurde.

Dumpfheit wurde nun identisch mit Gefühlstrottelei, mit dem Hegen von Vorurteilen. Ein "dumpfes Vorurteil" war ein Urteil, das man vorab hatte, ohne zu wissen, was ein Urteil eigentlich sei, wie es zustande kam und wie es sich gegen andere Urteile behaupten konnte. Die Positivisten beriefen sich auf Francis Bacon, der sich schon in der Shakespearezeit voller Herablassung über Vorurteile geäußert hatte, "Idole", wie er es nannte, mit denen man abrechnen müsse, um dem freien Geist Bahn zu verschaffen.

Bei den heutigen Medien-Eseln, die sich über "Dumpfbacken" erregen, ist Bacon inzwischen wieder vergessen, was nicht nur am gesunkenen Bildungsniveau liegt, sondern auch und vor allem daran, daß sich die Baconsche Idolenlehre in den Händen der Aufklärer als ausgesprochener Rohrkrepierer erwies. Bacon kritisierte nämlich nicht nur Vorurteile der Dumpfheit ("Idole der Höhle und des Stammes"), sondern auch Vorurteile der Aufgeklärtheit und des entfalteten Diskurses ("Idole des Marktes und des Theaters"). Und er meinte, daß die letzteren der Wahrheit mindestens ebensosehr im Wege stünden wie die Dumpfheit, der Dunst (haze).

Idole der Höhle und des Stammes – das waren für ihn gleichsam "unschuldige" Vorurteile, die sich aus der Natur des Menschen ergaben, die ihm in die Wiege gelegt waren und die er mit der Muttermilch aufgesogen hatte. Idole des Marktes und des Theaters dagegen waren Vorurteile, für die man als erwachsener Verstandesträger gewissermaßen volle Verantwortung zu übernehmen hatte, Phrasen, die man auf dem Marktplatz oder im Theater aufgeschnappt hatte und mit denen man nun um sich warf, ohne weiter darüber nachzudenken, gängige Zeitgeistmode, die man "trug" wie einen neuen Hut oder wie kreuzweis à la Malvolio geschnürte Strumpfbänder.

Der Malvolio in Shakespeares "Was ihr wollt" mit seinen kreuzweis geschnürten Strumpfbändern liefert eine passende Symbolfigur für die den Idolen des Marktes und des Theaters verfallenen Medienhengste der Gegenwart. Man hat ihm eingeredet, daß er mit seinen Kreuzweisen kolossalen Eindruck mache in der Welt der gehobenen Gesellschaft, daß dadurch seine "prachtvollen" (in Wirklichkeit dürren und hoffnungslosen) Waden zu gewaltiger erotischer Ausstrahlung kämen. Nun glaubt er, der zu jedem echten Gefühl unfähige Höfling, allen Ernstes, er könne das Gelände der Liebe wie im Sturm erobern und alle schlichten Seelen ein für allemal ausschalten und überstrahlen.

Verglichen mit solchen Eseleien wirkt die Ausdrucksverlegenheit auch noch der trübseligsten Dumpfbacke integer und sympathisch. Ihre Bomberjacken und Springerstiefel signalisieren im schlimmsten Fall aggressive Ratlosigkeit – und haben immerhin die Wirkung, daß man in den Ämtern jetzt nach Kleiderverboten ruft, wie sie zuletzt im finsteren Mittelalter üblich waren.

Die Malvolios von heute hingegen machen sich mit ihren medialen Strumpfbändern nur lächerlich. Sie merken es nur nicht, weil sie so viele sind und sich unaufhörlich gegenseitig versichern, wie schick und modern sie aussehen. Aber das würde zur Aufmerksamkeit nicht reichen, wenn es die Dumpfbacken nicht gäbe. Ohne dumpfes Gewittergrollen im Hintergrund ist vieles nichts.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen