© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    17/01 20. April 2001

 
Feuer, das in Lust verbrennt
Musik: Nach vier Jahren ist ein neues Rammstein-Album erschienen
Tobias Wimbauer

Mit gemischten Gefühlen haben viele Fans das dritte Rammstein-Studioalbum erwartet. Hie und da war zu hören, die Band wolle "gewisse" Themen weicher angehen, Text und Musik weniger martialisch gestalten und sich gar Synthi-Spielereien hingeben, letzteres Gerücht kam nach der Depeche Mode-Hommage "Stripped" auf. Und die Amerika-Versionen von "Engel" und "Du hast", englisch gesungen, waren so wenig überzeugend, daß Befürchtungen durchaus berechtigt schienen. Gott sei Dank, es ist nicht so gekommen!

Das neue Album "Mutter" (Motor Musik, Hamburg) ist ein würdiger Nachfolger von "Herzeleid" (1995) und "Sehnsucht" (1997). Die vier Jahre des nur durch ein Live-Album (allerdings ohne neue Lieder) unterbrochenen Wartens haben sich gelohnt. Die elf Titel auf "Mutter" haben alles, was Rammstein ausmacht. Themen wie Einsamkeit, Tod, Narzißmus, Sexualität und Gewalt werden zu einer eingängigen, mitreißenden Musik dargeboten, deren Kraft auch nach mehrdutzendfachem Hören nicht nachläßt.

Mitunter wird es romantisch: der letzte Kuß in "Nebel", "wo das Meer zu Ende ist". Musik wird zur Sucht, und die Sucht wird kurz zum Klang in "Adios": "Er legt die Nadel auf die Ader / und bittet die Musik herein / Zwischen Hals und Unterarm / die Melodie fährt leise ins Gebein". Das Ende des Liedes freilich ist tödlich.

"Mein Herz brennt" klingt in den ersten Zeilen wie ein Kinderlied und wird zum grandiosen Schrei der "Stimme aus dem Kissen", bedrängt von "Dämonen, Geister, schwarzen Feen", die nächtens ans Kinderbett treten. Mit der Verfremdung eines tatsächlichen Kinderliedes ("Hoppe hoppe Reiter / Mein Herz schlägt nicht mehr weiter") arbeitet der Song "Spieluhr", ein lebendig begrabenes Kind, das eine Spieluhr in der Hand hält, welche gleichsam aus der Erde heraus singt. Eine eindrucksvolle, metaphorische Beschreibung der Vereinsamung eines Kindes. Das "Herz im Kind" wird gerettet, als man es am Totensonntag aus der Erde heraus hört und es ausgebettet wird.

"Links 2 3 4" kommt im zackigen Marschrhythmus daher und könnte fehlgehend politisch aufgefaßt werden: "Sie wollen mein Herz am rechten Fleck / doch seh ich dann nach unten weg /da schlägt es links 2 3 4". Manch einer versprach sich von dem Lied ein Bekenntnis der Band zur Linken, aber ganz so einfach ist es halt bei Rammstein nicht. Die Band hat sich um Klischees politischer Art wie Rechts und Links noch nie gekümmert, abgesehen von bewußter Provokation mittels Symbolik. Das auf den ersten Blick manchem offensichtlich zu sein Scheinende wurde stets feinsinnig (das ist kein Widerspruch zu Text und Musik, wenn man die leise Ironie hinter der Martialität sehen kann) hintergangen und erfuhr so auf einer anderen Ebene die Wandlung ins Gegenteil. In einem Interview mit der Welt ließ Paul Landers, der Gitarrist, vernehmen: "Der Vorwurf, wir würden mit rechten Zeichen spielen, hat mit dem komischen Verhältnis zu tun, das Deutsche zu Deutschland haben."

Das Thema des Liedes "Links 2 3 4" ist auch kein politisches. Es ist vielmehr die immer neu variierte Frage nach dem metaphorischen Herzen; Redensarten und geläufige Zitate werden spielerisch zur Frage, vom gebrochenen Herzen bis zum Herz aus Stein. "Der Neider hat es schlecht gewußt" – mit dem Blick auf das Gegebene (das schlagende Herz) werden die Hilfskonstruktionen der Floskeln und Zitate hinfällig. Der Sehende hat die Antwort, er formuliert die Phrase als Frage, er bedarf der Volksmundaussage nicht mehr; der an der Oberfläche Kratzende neidet ihm die Gewißheit.

"Ich will" ist ein für Rammstein ungewöhnliches Lied. Die Musik treibend, umkreist der Text die Unmöglichkeit des gegenseitigen Verständnisses. Vielleicht ein Wink an jene Journalisten, die von Rammstein ständig eine politische Aussage erwarten und diese angeblich in ihren Liedern und Videos finden können und im Verwenden einer Leni Riefenstahl-Videosequenz den Untergang des neuen Abendlandes erblicken, dabei aber übersehen, daß Politisches in den Texten der Band noch nie eine Rolle gespielt hat.

Der Titelsong, "Mutter", ist das Aufbegehren des Retortenwesens Neuer Mensch gegen seine Existenz in der Ungezeugtheit seines Daseins: der "Mutter, die mich nie geboren" wird Rache geschworen. In "Links 2 3 4" wird die Frage artikuliert, ob man ein Kind unter seinem Herzen tragen könne. Die Frage bleibt post festum der Wunsch des produzierten Klons in "Mutter".

"Zwitter" lebt den gnadenlosen Narzißmus, der Titel ist eine Hymne auf die – wörtlich zu nehmende – Selbstverliebtheit: "Ich kann mich jeden Tag beglücken / Ich kann mir selber Rosen schicken (…) Wenn die Anderen Mädchen suchten / konnt’ ich mich schon selbst befruchten (…) Ich bin so verliebt". Ebenfalls deutlich – nun nicht mehr nur ironisch gebrochen – ist das Lied vom alten Leid "Rein Raus", die "Tätigkeiten" von Roß und Reiter (hier gewiß in Leder ausgeführt). Im Refrain mit den schon klassisch gewordenen rollenden Rs "Tiefer, tiefer – Sag es laut". Doch: "Der Ritt war kurz / es tut mir leid / Ich steige ab, hab keine Zeit / Muß jetzt zu den anderen Pferden / wollen auch geritten werden".

Als erste Single wurde "Sonne" ausgekoppelt, mit einem kolossalen, teildüsteren Video, das mit Lust und Gewalt, mit Sehnsucht und Strafe spielt. Ist es Zufall, daß das nicht vollendete Auszählen in "Sonne" sich schon in Nietzsches "Zarathustra" (Das andere Tanzlied, 3) findet? Es kommt bei Nietzsche darin das vielzitierte Diktum "Doch alle Lust will Ewigkeit", das rammsteinsche Zählen aber setzt vor der Ziffer von Nietzsches Postulat der Lust aus und führt die Schneewittchenschwesterngleiche in die Schein-Ewigkeit, bis sie den Glassarg durchbricht und wieder auf(er)steht. Und alles geht wieder seinen Gang: "Alle warten auf das Licht", unten in den Minen.

Die Booklet-Gestaltung muß gesondert erwähnt werden. Die Liedtexte sind in Computerschrift gehalten, dazu Fotos der Bandmitglieder, allesamt mit Spuren von Gewaltverbrechen, als Präparat in Formalin eingelegt, eine DNA-Doppelhelix und der Name des Präparates darunter. Von manchem sind auch nur fragmentarische Reste des Kopfes eingelegt. Auf dem Titelfoto ein Embryo. DNA, Embryo und Verbrechensopfer – ein eigenwilliger Beitrag zur Klon-Debatte? Bedenkt man dies, kommt nicht nur dem Titelsong ein weiterer Bedeutungsgehalt zu.

Überhaupt ist der intertextuelle Bezug der Lieder aufeinander immens, verfolgt man den Gedanken weiter: die gnadenlose Konsequenz aus dem Verlust des Mensch-Seins in einer postmoralischen Welt. Als Klon nicht gezeugt und nicht geboren, sondern einer Apparatur entsprungen, für tot befunden, verscharrt und durch den Klang eines technischen Räderwerkes erhört und wieder ausgebuddelt. Die imaginierte Mutter in den Fluß geworfen, sich selbst verstümmelt, das Muttermal aus der Stirn geschnitten, daran verblutend. Nachts Alpträume, die "heißen Tränen" der geschundenen Kreatur stehlend, singt einer aus dem Kissen, der sich das Herz herausgerissen hat, und dieses Herz brennt.

Aber was ist das Herz noch, gibt es in dieser schönen neuen Welt noch Gefühle ("Links 2 3 4"), da "getadelt wird, wer Schmerzen kennt" ("Feuer frei")? Kommunikation ist unmöglich geworden, "Ich will" führt zu nichts, Verständnis wird zur abgeschmackten Utopie. Sehen, Hören, Fühlen und das einsame Herz, sich selbst aus der geklonten Brust gerissen, brennt lichterloh. Das Zwitterwesen kann nur noch sich selbst lieben, die Sexualität wird zum promiskuitiven Vollzug – Partner, Gefühle oder Fortpflanzungswunsch spielen dabei keine Rolle mehr, es gibt ja noch die anderen Pferde. Die versuchte, zweimenschliche Liebe mündet im Tod ("Nebel"), die Wahrheit bleibt ungesagt. "Alle warten auf das Licht" der Sonne, das nukleare Explosion sein kann oder Droge, auf alle Fälle aber Untergang und Ende. Mittels Musik und Nadel befördert man sich aus dem Diesseits, in dem unbarmherzig galt: "Nichts ist für dich / Nichts war für dich / Nichts bleibt für dich / Für immer" ("Adios"). Oder man ersehnt den Schuß, das "Feuer, das vom Leben trennt". Und schließlich endet man, wie auf den Fotos, im Panoptikum.

Es sind typische Rammstein-Lieder, gewiß. Aber das Bewährte wird nicht zur Masche, die lediglich variiert wurde. Es ist Neues auch in der Musik, ohne einen Verrat am Alten begehen zu müssen. Man gerät in den eigentümlichen Sog der Lieder. Läßt man sich darauf ein, so hat man mit "Mutter" ein mitreißendes Album, das nicht nur den hartgesottenen Rammstein-Fan begeistern wird.


 
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